Es geht nicht ohne zivilen Ungehorsam
Núria Alcaraz über die Regierungsbildung in Katalonien und den langen Weg zur Republik
Dank der Enthaltung der vier Abgeordneten der linksradikalen CUP hat Katalonien seit Anfang dieser Woche mit Quim Torra einen neuen Regierungschef aus dem Unabhängigkeitslager – fünf Monate nach den Wahlen vom 21. Dezember. Ist die am 27. Oktober rund um die Unabhängigkeitsbestrebungen verhängte Zwangsverwaltung durch Spanien unter Artikel 155 damit bald passé? Gute Frage, theoretisch ja, praktisch bin ich mir da nicht so sicher. Theoretisch müsste es so sein, weil die Regierung in Madrid zugesagt hatte, nach einer Regierungsbildung die Zwangsverwaltung aufzuheben, wie es die spanische Verfassung vorschreibt. Deswegen hat die CUP sich zur Enthaltung entschlossen, um Regierungsbildung und Aufhebung der Zwangsverwaltung den Weg zu ebnen. Tatsächlich glaube ich nicht, dass Spaniens Regierung sich nun zurückzieht, sondern dass sie weiter versuchen wird, in Katalonien zu intervenieren, auch wenn das selbst durch spanische Gesetze jetzt nicht mehr gedeckt ist. Die ersten Äußerungen aus Madrid in Richtung von Quim Torra sprechen nicht dafür, dass die Zwangsverwaltung aufgehoben wird – da wird ihm vorgeworfen, dass seine Politik auf neue Verfassungsbrüche abziele. Aus meiner Sicht war Katalonien ohnehin schon vor dem Artikel 155 ständigen Interventionen aus Madrid ausgesetzt. So wurden im katalanischen Parlament beschlossene soziale Gesetze durch das spanische Verfassungsgericht kassiert. Ich erwarte keine Änderung aus Madrid.
Was erwartet die CUP von der Regierung Quim Torras, der sie nicht angehört? Dass er die vom Verfassungsgericht suspendierten Gesetze wieder verabschiedet?
Ja. Das halten wir für eines der prioritärsten Anliegen, die die Regierung verfolgen sollte. Damit soll der Bevölkerung demonstriert werden, dass die zu schaffende Republik für die Menschen da ist, für die Arbeiterklasse, für die Migranten, für die Einkommensschwachen. Außerdem erwarten wir, dass die neue Regierung eine Versammlung aller gewählten Amtsträger von den Kommunen einberuft, um mit ihnen über die Umsetzung der Gesetze in der Praxis zu beraten, auch wenn sie von Spanien torpediert werden. Es geht darum, Mechanismen zu schaffen, die reale Entscheidungsmacht von unten zu stärken und den Prozess einer Verfassunggebenden Versammlung einzuleiten, in den die sozialen Bewegungen eingebunden werden müssen. Nur so lässt sich der Repression entgegenwirken und eine Souveränität für Katalonien erlangen.
Um welche Gesetze handelt es sich zum Beispiel, die via Verfassungsgericht ausgehebelt wurden? Beispielsweise ein Gesetz, das die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern schließen sollte: Männer verdienen 25 Prozent mehr als Frauen. Alle Gesetze, die den Arbeitsmarkt regulieren sollten, wurden vom Verfassungsgericht kassiert, auch das, das gegen sexuelle Belästigung gerichtet war. Aber auch Gesetze, die Zwangsräumungen erschweren oder die Stromabschaltung bei Zahlungsrückständen verbieten sollten, wurden von Madrid zurückgewiesen.
Wie hat das Verfassungsgericht das denn begründet?
Das fällt nicht in die Zuständigkeit des katalanischen Parlaments, Punktum! Das ist das prinzipielle Argument, das immer wieder angeführt wird.
Der neue Regierungschef Quim Torra, ein politischer Quereinsteiger aus dem bürgerlichen Unabhängigkeitslager um seinen Vorgänger Carles Puigdemont, als dessen Statthalter sich Torra selbst definiert, hat in der Vergangenheit despektierliche Tweets gegen Menschen vom Stapel gelassen, die er als »Spanier« kategorisiert hat. Er hat sich dafür entschuldigt, aber dennoch: Würde es in Katalonien im Falle einer Republik Bürger erster und zweiter Klasse geben, in Abhängigkeit davon, ob man Katalanisch als Muttersprache hat oder Spanisch oder eine andere Sprache? Wie sieht das die CUP? Für uns ist das keine Frage: Alle Bürger und Bürgerinnen Kataloniens ha- ben dieselben Rechte, welcher Muttersprache oder Herkunft auch immer. Darauf weisen wir aus unserer linken Perspektive immer hin, darauf beharren wir, das ist nicht verhandelbar. Den rassistischen Diskurs in der katalanischen Politik pflegen übrigens die Parteien, die gegen die Unabhängigkeit sind. Sie behaupten, dass alle, die spanischer Herkunft sind, gegen die Unabhängigkeit seien. Das ist im Übrigen falsch: Viele in Katalonien lebende Menschen mit spanischen Wurzeln befürworten eine katalanische Republik. Bei den Wahlen im Dezember konnte das Unabhängigkeitslager gerade in den ärmeren Vierteln mit hohem migrantischen Anteil hohe Zustimmung einfahren. In den spanischen Medien wird es so dargestellt, als ob nur die Katalanen mit katalanischer Herkunft die Unabhängigkeit wollen. Das ist eine Lüge. Und es waren an vorderster Stelle auch die spanischsprachigen Migranten, die für das Modell der Immersion an den Schulen in Katalonien eingetreten sind, weil sie wissen, dass ihre Kinder mit Katalanisch als erster Sprache bessere Perspektiven in Katalonien haben würden als mit Spanisch.
O.k., die Position der CUP ist klar nicht ausgrenzend. Aber gilt das für die gesamte Unabhängigkeitsbewegung bis ins bürgerliche Lager? Ich kann nicht für alle sprechen. Die Bewegung ist transversal, läuft quer durch die Gesellschaft, aber aus meiner Sicht ist klar, dass eine eindeutige Mehrheit der Bewegung links ist und die Position der CUP teilt: Alle haben die gleichen Rechte.
Insgesamt ist die Strategie der CUP aber eine Minderheitenposition. Sie setzt nicht auf Dialog wie die Liste von Puigdemont und Torra, Junts per Catalunya, oder die Linksrepublikaner von der ERC, die zusammen die Minderheitsregierung stellen, sondern auf zivilen Ungehorsam
Núria Alcaraz ist seit vier Monaten Mitglied im Sekretariat der linksradikalen Kandidatur der Volkseinheit, (CUP), die derzeit mit vier Sitzen im katalanischen Parlament das Zünglein an der Waage ist. Die Regierung aus dem Unabhängigkeitslager stellt 66 Sitze, die spanientreuen Unionisten 65 Sitze. Alcaraz promoviert in Soziologie. Mit der feministischen Aktivistin sprach Martin Ling. und Konfrontation mit dem spanischen Staat. Die CUP will eine neue, gerechte Gesellschaft von unten aufbauen. Kann man diesen Weg mit weniger als zehn Prozent Rückhalt in der Bevölkerung gehen?
Meiner Meinung nach befinden sich auch unter den Wählern von JuntsxCat und der ERC jede Menge Menschen, die für den zivilen Ungehorsam sind. Sie haben mit ihrem Votum am 21. Dezember zum Ausdruck gebracht, dass sie am Aufbau einer Republik anstelle der Monarchie festhalten wollen. Dafür steht auch Puigdemont, dafür wurde er gewählt. Aus meiner Sicht ist der zivile Ungehorsam die einzige Möglichkeit, genügend Druck aufzubauen, um einer Republik näher zu kommen. Aber ganz sicher müssen wir noch viel mehr Leute davon überzeugen, dass dies der einzige Weg ist. Es gibt ja lehrreiche Beispiele: der Generalstreik vom 3. Oktober 2017, zwei Tage nach der Gewalt der Sicherheitskräfte gegen friedliche Wähler beim Unabhängigkeitsreferendum und danach der Generalstreik und die Massendemonstrationen im November. Bei diesen Gelegenheiten sind Hunderttausende auf den Straßen gewesen, nicht nur Leute aus der Linken. Es handelt sich um eine Bewegung von Menschen, die den Wandel wollen, eine Vertiefung der Demokratisierung, und die ist innerhalb dieses Spaniens nicht vorstellbar. Deswegen wollen wir die Unabhängigkeit. Und dafür müssen wir die Basis in der Bevölkerung vor allem mit progressiver Sozialpolitik erweitern.