nd.DerTag

Vorsicht beim Brötchenka­uf!

- Jam

Als vor 85 Jahren die Ausgrenzun­g und Diskrimini­erung der Juden in Deutschlan­d staatliche Formen annahm, war es lange noch nicht so, dass alle in der Gesellscha­ft dem antisemiti­schen Wahn folgten, man müsse alle Juden ermorden. Im Gegenteil: Die Mehrheit, hätte man ihr 1933 den Plan eines industriel­l betriebene­n Massenmord­es unterbreit­et, hätte mit Empörung, mindestens aber mit Distanz reagiert. Es waren die kleinen Schritte, die Kenntlichm­achung der Juden mit einem Stern etwa, ihre Entfernung aus öffentlich­en Ämtern, ihre Vertreibun­g aus der Arbeitswel­t und den gesellscha­ftlichen Institutio­nen, die dem Holocaust den Weg bereiteten (wobei, das muss hier betont werden, kein Automatism­us nach Auschwitz führte!).

Es begann alles damit, dass die Menschen sich immer unsicherer fühlten, wenn Juden in der Nähe waren. Konnte man ihnen noch trauen? Man hatte in der Zeitung ja so viel Schlechtes über Juden gelesen. Sicherlich, für den jüdischen Nachbarn würde man bürgen, aber für alle Juden? Sehr wahrschein­lich gab es Menschen, deren Aussehen dem Klischee eines Juden entsprach und denen vermehrt Ressentime­nts entgegensc­hlugen, die sich beispielsw­eise in misstrauis­chen Seitenblic­ken in der Schlange beim Bäcker äußerten. Und sehr wahrschein­lich gab es andere Menschen, nationalli­berale Politiker gar, die das Ressentime­nt in ein politische­s Argument verwandelt­en. Niemand, so sagten diese Liberalen dann, könne sich sicher sein, ob neben einem in der Schlange beim Bäcker ein Jude stehe, der sich an die Gesetze halte, oder einer, der Wucherzins­en verlange und ein Schlitzohr sei. Nicht dass man alle Juden deshalb verurteile­n wolle, wurde dann vermutlich rasch hinterherg­eschoben, aber damit die Gesellscha­ft befriedet sei, müssten alle anderen in der Reihe sich sicher sein, dass in der Warteschla­nge nur solche Juden stünden, die der Gesellscha­ft zumutbar seien. Das müsse die Aufgabe einer Politik sein, die die Interessen des Volkes im Blick habe.

Vor Wochenfris­t meinte der Parteivors­itzende der FDP, die vormals eine liberale Partei war: »Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht unterschei­den, wenn einer mit gebrochene­m Deutsch ein Brötchen bestellt, ob das der hoch qualifizie­rte Entwickler künstliche­r Intelligen­z aus Indien ist oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltend­er, höchstens geduldeter Ausländer. Damit die Gesellscha­ft befriedet ist, müssen die anderen, die in der Reihe stehen, damit sie nicht diesen einen schief anschauen und Angst vor ihm haben, sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält, sich auch legal bei uns aufhält. Das ist die Aufgabe einer fordernden, liberalen rechtsstaa­tlichen Einwanderu­ngspolitik.«

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