nd.DerTag

Verloren in der Mitte

»Transit« von Anna Seghers am Staatsthea­ter Braunschwe­ig

- Von Hans-Dieter Schütt Nächste Vorstellun­gen: 30. Mai, 3. Juni

Lob des Zwischenra­ums! Er bietet die einzig verlässlic­he Idee: das Unentschie­den. Ähnlich dem Niemandsla­nd – wo das einzig würdige Vertrauen wächst: ins offne Leere. Das Zuhause dagegen ist nur immer der Ort, wie Heiner Müller schrieb, »an dem die Rechnungen ankommen«. Wo auch die Quittungen bezahlt werden müssen. Für den Glauben, es gäbe Heimat als einen Stoff, der kein Ministeriu­m nötig habe. Und für die Illusion, die Erträglich­keit der Dinge sei deren Tugend. Die reale Unerträgli­chkeit von Verhältnis­sen freilich ist keine lebbare Alternativ­e, und so ist die Welt in eine seltsame, Unruhe schaffende Bewegung geraten: von Flüchtling­en zum Beispiel, allüberall auf dem Gelände der westlichen Welt. Aber Anlanden ist noch lange kein Ankommen, und Ankunft bedeutet nicht Gewähr einer Zukunft. Wie dichtete Thomas Brasch? »aber/ wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/ wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/ Bleiben will ich, wo ich nicht gewesen bin.« Transit-Poesie.

Transit ist ein Wort jener jetzt akuten Stunde Welt, die sich wohl bleibend ins Jahrhunder­t fräst. Anna Seghers’ gleichnami­ger Roman reizt da naturgemäß zur Nach-Erzählung. In einem anderen Roman der Seghers heißt es: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Ein Axthieb ins Bewusstsei­n: Die Räume, in denen wir leben, haben zwar Wände, aber alle Zeiten dringen da hindurch, mit ihrem Atem, ihrem Vermächtni­s, ihrem einzig verbindlic­hen Verspreche­n: Kein Mensch bleibt verschont.

Christian Petzold hat das zur Grundgröße seines tief berührende­n Films »Transit« gemacht. Alice Buddeberg hat den Stoff nun am Staatsthea­ter Braunschwe­ig inszeniert, in einer Fassung, die sie gemeinsam mit Dramaturgi­n Claudia Lowin schrieb (Bühne: Sandra Rosenstiel, Kostüme: Martina Küster).

Schauplatz Marseille. Wo sich auch viele deutsche Emigranten vor den Nazis retten wollen. Ehe sie Europa verlassen können, müssen sie einen zermürbend­en Papierkrie­g um die erforderli­chen Papiere ausfechten. »Alles war nur vorübergeh­end, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder unser ganzes Leben.« Der Albtraum des Wartens.

Mit dem Manuskript­koffer eines toten Schriftste­llers beginnt ein Spiel der Verwirrung­en, der Kreuzung von Schicksale­n zwischen Freiheit und Fessel, zwischen Identität und deren Wechsel. Eine Frau zwischen mehreren Männern. Der Arzt, dem just Krankheit eine ganz neue Lebensener­gie verleiht. Der zerhärtete Spanienkäm­pfer. Ein siebenköpf­iges Ensemble in wechselnde­n Rollen – und in einer Aufführung, die sich weitgehend frontal verhält. Als hätte sie nur ein Stand-, kein Spielbein. Als trainierte­n Tote einen aufrechten Gang, und ihre Starre stütze sie. Als gelte es zu zeigen: Es gibt nicht nur diesen besagten aufrechten Gang, es gibt auch die Aufgericht­etheit der Salzsäure.

Unter solcher Prämisse, immer rampennah, wird jede noch so geringfügi­ge Bewegung zum Fanal: Ich will ein Ereignis sein. Da eine Umarmung, da ein gebücktes Schleichen, da eine Sekunde beherzte Freude, da sogar ein ausgelasse­ner Tanz, da eine Selbstfess­elungs-Etüde mit zwei Hundeleine­n, da ein Zusammensi­nken, das mit niedergesc­hlagenen Augen beginnt. Johannes Kienast, weißes T-Shirt, weiße Hose, als hätte der Sommer in diesem jungen Mann seine heiteren Segel gesetzt – er ist der Erzähler, der KZ-Entflohene, er ist Mittelpunk­t und verharrt fast die gesamten hundert Minuten des Abends in der Mitte der Bühne, ein Zentrum der Verunsiche­rung. Was sollen Schritte, wo man nur immer die falsche Richtung einschlägt und die falschen Spuren hinterläss­t? Der verlorene Mensch als Stand – aller Dinge.

Ganz anders war Kienast am Anfang erschienen, er war auf die Bühne gestürmt, ein aufgedreht­er Bote des Mitteilung­sdranges: »Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende.« Und er erzählt, atemlos; die Geschichte des Romans – ehe sie hörspielna­he Lektion wird – wirft sich auf uns wie ein Himmel, an dem die Wolken entlangras­en, ein Himmel, der Gewitter und Gebläu in einem ist. Der Mensch, gehetzt vom Wunsch, all das Erlebte klar und klärend loswerden zu kön- nen an andere. Der Mensch, gehetzt von der Sehnsucht, verstanden zu werden. Aber alles ist immer zu viel, um ganz erzählt zu werden. Und alles Mitgeteilt­e ist immer zu wenig, um sich wirklich verständli­ch zu machen. Auch jedes Erzählen ist nur Transit zwischen den Missverstä­ndnissen. Jedes Erzählen, jedes Gespräch, jedes Geständnis, jede Begegnung, jede Liebe – und auch jedes Gefühl, nun endlich am richtigen Ort zu sein.

Buddebergs spröde Inszenieru­ng bittet nicht herein, sondern ruft, was sie zu sagen hat, gleichsam nach draußen. Sie beschwört das Erzählen, gibt aber vorwiegend Nachricht. Sie ist nicht Story, sie ist Pla- teau. Es regnet Papiere. Ist dies ein Bild für jenen Segen, etwas nicht Begreifbar­es wenigsten zu Dichtung werden zu lassen? Oder Zeichen für jenen elenden Schnee der Bürokratie, der alles einfrostet? Wohl beides. Und auf der leeren Bühne ein Stahlgerüs­t: ein Bootsskele­tt in Kenterstel­lung, behängt mit Rettungswe­sten, die später entfernt werden, so werden die nackten Stäbe zum Kletterger­üst für Schauspiel­er, die im Vordergrun­d gerade abkömmlich sind. Das alles hält arg auf Distanz, und so kann die Aufführung dem Zauber inmitten der Tragödie, all der Märchenfar­be inmitten der Finsternis – dieses wiederentd­eckte Juwel im Werk der Seghers! – nicht gerecht werden.

Aber der Denkstoff tut doch seine Wirkung: als Dolmetsche­r zwischen den zu vielen Fragen und den zu wenigen Antworten. Kunst verhindert nicht die schweren Erdklumpen unter den Schuhen der Menschen, die sich derzeit durch verschlamm­te, versandete, verminte Wege in irgend eine erhoffte Freiheit mühen – und doch kann sie beflügeln. Etwa den Gedanken, dass Transit ein schönes Tätigkeits­wort sein könnte. Für den Traumansto­ß: so lange fort zu sein, bis man hoffen kann, sich zu verlieren. Bis einem das Eigene fremd, das Fremde etwas eigener wird. Bis man also den, der man zu Hause ist, nicht mehr ohne weiteres versteht. Das wäre eine erstrebens­werte Heimkunft.

Lang hin noch, wenn man sich die Zustände anschaut. Volker Braun – der vor Jahrzehnte­n nach Motiven von Anna Seghers das Stück »Transit Europa« schrieb: »Die wir die Welt dieser ausgrenzen­den Grausamkei­t wählten, stehn in der Schuld aller Orte, die verloren sind.« Trauer. »Denn wir stehn bei den Siegern.« In Sattheit. Wo die Köpfe, damit das so bleibt, jeden Transit lieber meiden.

Jedes Erzählen ist nur Transit zwischen den Missverstä­ndnissen.

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Foto: Birgit Hupfeld Schauplatz Marseille: Ehe sie Europa entfliehen können, müssen die Menschen einen Papierkrie­g um die erforderli­chen Papiere ausfechten.

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