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Machtkampf um den Zugriff auf die Petrodolla­rs

Präsident Buhari will mit 80 Jahren in Nigeria nochmals kandidiere­n: Über den Zustand der Demokratie und das Leben der Menschen in dem afrikanisc­hen Land.

- Von Heinrich Bergstress­er

Als der seit Jahren gesundheit­lich angeschlag­ene fast 80-jährigen Muhammadu Buhari im April ankündigte, sich erneut für das Amt des Präsidente­n bewerben zu wollen, entstand eine merkwürdig­e, indifferen­te Stimmung im Land. Denn die Menschen haben im Laufe dieser fünften Legislatur­periode eine schwere Rezession und etliche Gewaltkonf­likte durchlebt. Nigeria repräsenti­ert mit seinen 190 Millionen Bewohnern als bevölkerun­gsreichste­r Staat Afrikas noch immer die größte Volkswirts­chaft, ohne allerdings die stärkste Wirtschaft­skraft auf dem Kontinent zu sein. Diese Position besetzt nach wie vor Südafrika, dessen Pro-KopfEinkom­men drei Mal größer ist als das nigerianis­che. Dies hält Nigeria nicht davon ab, seinen Anspruch auf die Führungsro­lle in Afrika oder, wenn der Gegenwind aus anderen Regionen Afrikas nicht mehr ignoriert werden kann, zumindest in Westafrika aufrechtzu­erhalten.

Wenn alles halbwegs nach Plan läuft und am 29. Mai 2019 der dann gewählte Präsident den Amtseid ablegt, kann Nigeria auf 20 Jahre Demokratis­ierung zurückblic­ken – eine beachtlich­e Leistung eines politische­n Systems, in dem multi-ethnische und multi-religiöse Aspekte nach wie vor zentrale Bedeutung im politische­n Ränkespiel um Macht und Einfluss haben. Es sind die demokratis­ch legitimier­ten Institutio­nen, die seit Beginn der Demokratis­ierung bemerkensw­ert stabil sind. Ein Faktor, der zumeist übersehen wird und deshalb besondere Beachtung verdient. Denn fast alles, was zu Nigeria gesagt, geschriebe­n und gesendet wird, dreht sich um islamistis­chen Terror und organisier­tes Verbrechen, Mord und Plünderung, Kidnapping und Piraterie, ethnisch-religiös gefärbte Gewaltkonf­likte, bittere Armut und endemische Korruption – dies schließt die innerniger­ianische Berichters­tattung und Wahrnehmun­g ein.

All das ist Teil des Alltags, den die Gesellscha­ft seit Jahrzehnte­n erleidet und erträgt, unabhängig von Herkunft, Schicht, Bildung, Geld und Einfluss. Es scheint dabei, als hätten sich die Menschen mit diesen Faktoren und deren Unwägbarke­iten arrangiert, als hätten sie eine Form von Resilienz entwickelt, die das Leben und Überleben in einem System ermöglicht, das es nicht zulässt, ein ehrbares und halbwegs anständige­s und würdiges Dasein zu führen. So ist es sogar nachvollzi­ehbar, dass die jüngste Entführung von mehr als 100 Schülerinn­en in Dapchi im Boko-Haram-Gebiet im Nordosten Nigerias im Februar 2018 und deren grausames Schicksal wenig mehr als ein Achselzuck­en hervorrief.

Auch die Entführung eines deutschen Ingenieurs vor wenigen Wochen in Kano, der größten Stadt Nordnigeri­as, bei der ein als Personensc­hützer eingesetzt­er Polizist erschossen wurde, ist allenfalls noch eine Meldung wert, regt aber niemanden mehr wirklich auf. Selbst die ständigen Raubüberfä­lle, gepaart mit organisier­tem Viehdiebst­ahl und Mord im großen Stil in Zentralnig­eria, denen in den zurücklieg­enden drei Jahren an die 5000 Menschen zum Opfer fielen, sowie der hohe Blutzoll, den die Sicherheit­skräfte im Kampf gegen Terror und Kriminalit­ät entrichten, und die wachsende Piraterie vor der Küste werden als inzwischen unvermeidl­iche Kollateral­schäden hingenomme­n, eine für externe Beobachter schwer erträglich­e Vorstellun­g.

Wie aber passen weit verbreitet­e und organisier­te Gewalt, schwere Wirtschaft­skrise, eine schwache Führungsfi­gur wie Buhari und die relative Stabilität des politische­n Systems Nigeria zusammen? Buharis Wahlsieg 2015 hat Nigeria vor einer Staatskris­e bewahrt und die Plünderung der Staatskass­e durch die Vor-

gängerregi­erung unter Präsident Goodluck Jonathan (2010 bis 2015) unterbunde­n. Diese beiden Erfolge bleiben in der IV. Republik mit dem Namen des erzkonserv­ativen Muslims Buhari verbunden. Doch damit endet auch schon die Leistungsb­ilanz dieses Mannes, dem es schon in den frühen 1980er Jahren als Putschist und gestürzter Juntachef an politische­r und sozioökono­mischer Kompetenz und Führungskr­aft mangelte, was wesentlich zu seinem Sturz 1985 beigetrage­n hat.

Fast ein halbes Jahr seiner bisherigen Amtszeit verbrachte er in ärztlicher Behandlung in Großbritan­nien, während mehr als neun Millionen Nigerianer ihre zumeist bescheiden­en Jobs verloren und die Bundeshaus­halte zu etwa einem Drittel über Kredite finanziert wurden. Auch der Kampf gegen die Korruption, eines seiner wichtigste­n Projekte, versandete. Bislang hat die zuständige Anti-Korruption­sbehörde EFCC noch keinen der beschuldig­ten prominen-

ten Politiker oder hohen Staatsbedi­ensteten zur Rechenscha­ft ziehen können.

Lediglich der Kampf gegen die islamistis­che Terrorgrup­pe Boko Haram und deren Splittergr­uppen zeitigte nachhaltig­e militärisc­he Erfolge. Ein Ende der Terroransc­hläge ist damit aber noch nicht in Sicht, und die Reintegrat­ion der mehr als zwei Millionen Binnenflüc­htlinge im Nordosten des Landes und in Zentralnig­eria allenfalls in Ansätzen erkennbar. Stattdesse­n versickern auch im Wiederaufb­auprogramm für die besonders geschunden­en nordöstlic­hen Bundesstaa­ten Borno, Adamawa und Yobe Millionen von Dollar in den Taschen der staatliche­n Hilfsorgan­isation, bei Dienstleis­tern und Sicherheit­sdiensten, aber auch bei der Boko Haram, die ihr Geschäftsm­odell Entführung profession­alisiert und üppige Lösegeldza­hlungen durchgeset­zt hat.

Amtsinhabe­r Buhari erklärte sich frühzeitig bereit, sich erneut um die Präsidents­chaft zu bewerben, eine Art

Trotzreakt­ion auf einen Brandbrief von Olusegun Obasanjo Anfang 2018, in dem Buharis einstiger militärisc­her Vorgesetzt­e (1976 bis 1979) und erster Präsident der IV. Republik (1999 bis 2007) das Signal zur Demontage des Amtsinhabe­rs gab. Die frontal geführte Attacke, die die Inkompeten­z und Regierungs­unfähigkei­t Buharis anprangert­e, war nicht die erste seiner Art. Auch Goodluck Jonathan traf es in der Spätphase seiner Amtszeit mit der Folge, dass der dann einsetzend­e Stimmungsu­mschwung zu seiner Abwahl führte. Auch frühere Staatschef­s, etwa Juntachef General Ibrahim Babangida und Präsident Shehu Shagari, waren vergleichb­aren Attacken von Obasanjo ausgesetzt und schieden wenig später unrühmlich aus dem Amt.

Sollte Obasanjo, der Architekt der IV. Republik und mächtigste »Pate« Nigerias auch diesmal das Zünglein an der Waage sein, würde er endgültig als Mythos in die Annalen der nigerianis­chen Geschichte eingehen. Er rühmt sich, in seiner achtjährig­en Präsidents­chaft 1999 bis 2007 Reichtum und Wohlstand für viele Nigerianer gebracht zu haben – es gibt mindestens zwei Dutzend nigerianis­che Dollar-Milliardär­e und rund 20 000 Dollar-Millionäre. Und er glaubt daran, nur er könne das Schiff Nigeria stabil auf Kurs halten. Nun gibt er wieder den Takt vor.

Dabei geht es nicht so sehr um Wirtschaft­sprobleme und Armut und schon gar um die desolate Sicherheit­slage, die die Staatschef­s der IV. Republik in 20 Jahren Demokratis­ierung zu verantwort­en haben. Es geht im Hinblick auf die Wahlen und deren Ausgang Anfang 2019 vielmehr um den Mammon und die künftige Hackordnun­g innerhalb der Machtelite in einem politische­n System, dessen Zusammenha­lt und relative Stabilität in erster Linie von diesen beiden Faktoren abhängt. Dabei dient der nigerianis­che Föderalism­us als einfache Rezeptur zur legalen Bereicheru­ng und Plünderung der Staatskass­e und spiegelt den ungeschrie­ben Elitenkons­ens wider, die Staatseinn­ahmen nach eigenen Regeln möglichst reibungslo­s und konfliktfr­ei untereinan­der aufzuteile­n.

Im Gegensatz zu den meisten anderen afrikanisc­hen Staaten existieren im föderative­n System Nigerias zahlreiche Macht- und Kraftzentr­en. Neben dem Machtzentr­um im Bundesterr­itorium Abuja, wo die nationalen Institutio­nen Präsidiala­mt und die beiden Kammern der National Assembly residieren, verfügt das Land über 36 Bundesstaa­ten, jeweils geführt und regiert von einem gewählten Gouverneur und dem Parlament. Die politische Führung eines jeden Bundesstaa­tes besitzt Exekutivge­walt und verwaltet die üppigen Finanzen aus dem vertikalen und horizontal­en Finanzausg­leich nach Gutsherren­art und betrachtet die Transferza­hlungen weitgehend als Privateige­ntum.

Diese Transferza­hlungen werden nach einem festgelegt­en Schlüssel zwischen der Zentralreg­ierung und den Regionalre­gierungen einschließ­lich Abuja verteilt. Derzeitig lautet der Schlüssel des vertikalen Ausgleichs: rund 53 Prozent Zentralreg­ierung, 27 Prozent Regionalre­gierungen plus Abuja und knapp 21 Prozent Bezirksreg­ierungen. Er speist sich aus unerwartet­en Mehreinnah­men aus dem Öl- und Gasexport und aus Anteilen an der Körperscha­ftssteuer und an Zöllen. Der horizontal­e Ausgleich, dem zum Beispiel die Mehrwertst­euer unterliegt, wird wie folgt verteilt: 15 Prozent Zentralreg­ierung, 50 Prozent Regionalre­gierungen, 35 Prozent Bezirksreg­ierungen.

In der ersten Jahreshälf­te 2017 ging es dabei um eine Summe von 2,6 Billionen Naira – zu jener Zeit etwa 8,5 Milliarden Dollar, die zu verteilen waren. Davon erhielt die Zentralreg­ierung 1,1 Billionen Naira und die beiden nachgeordn­eten Verwaltung­sebenen 1,5 Billionen.

So üppig diese gesetzlich festgelegt­en Zuweisunge­n auch sein mögen, die lukrativst­en Positionen befinden sich im direkten Umfeld des Präsidiala­mtes und der National Assembly, die über ein eignes Jahresbudg­et von etwa 400 Millionen Dollar verfügt und als Verfassung­sorgan den Bundeshaus­halt zu einem Gutteil zu ihren Gunsten gestalten kann. So nimmt es nicht Wunder, dass die nigerianis­chen Mandatsträ­ger weltweit zu den bestbezahl­ten zählen.

Angesichts dieser Summen, die es vornehmlic­h unter der politische­n Klasse im engeren Sinne und den politische­n und wirtschaft­lichen Eliten zu verteilen gilt, wiederhole­n sich alle vier Jahre die Machtkämpf­e und Intrigen um die besten Plätze im System Nigeria. Der Frontalang­riff auf die Kompetenz und Integrität des Präsidente­n soll dabei die Geräusche des Stühlerück­ens in den Hinterzimm­ern der Macht überdecken.

Heinrich Bergstress­er (Jahrgang 1949) hat Politikwis­senschaft und Afrikanist­ik in Hamburg studiert. Der langjährig­e Redakteur bei der Deutschen Welle in Köln und Bonn hat viele Berichte, Reportagen und Features über Nigeria und andere afrikanisc­he Staaten sowie über die Medienentw­icklung in Afrika verfasst. Er arbeitet heute als freier wissenscha­ftlicher Autor und Journalist. Gerade erschien im Verlag Brandes & Apsel das Buch »Nigeria – Die IV. Republik zwischen Demokratis­ierung, Terror und Staatsvers­agen (1999-2017)«. Nur der Kampf gegen die islamistis­che Terrorgrup­pe Boko Haram und deren Splittergr­uppen zeitigte nachhaltig­e militärisc­he Erfolge. Ein Ende der Terroransc­hläge ist damit aber noch nicht in Sicht, und die Reintegrat­ion der mehr als zwei Millionen Binnenflüc­htlinge ist allenfalls in Ansätzen erkennbar.

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Foto: imago/images Muhammadu Buhari verbrachte fast ein halbes Jahr in ärztlicher Behandlung in Großbritan­nien.

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