nd.DerTag

Ich habe den ESC gewonnen

- Von Paula Irmschler

Für viele dicke Menschen ist der Zeitpunkt des Jahres, an dem sie sich das erste Mal wieder ihrer winterlich­en Jacke entledigen müssen, ziemlich belastend. Dann wissen nämlich alle, dass man einen Bauch hat und wie lange wurde einem immer wieder eingetrich­tert, dass das etwas Schlechtes, Ekliges, Zuvieliges ist? Die Zurichtung findet überall statt: Zuhause, in Beziehunge­n, auf der Straße, im Job, in Medien. Dicke Menschen, die wie auch immer in der Öffentlich­keit stehen, sind ein Skandal. Frauenzeit­schriften sind voll mit Schlagzeil­en über Prominente, die zugenommen haben, »sich gehen lassen«, »aus dem Leim gehen« – wie auch immer man eben ausdrücken mag, dass man seine Vorstellun­gen davon, was ein richtiger und was ein falscher Körper ist, anderen aufzudräng­en versucht. Dazu dann noch die üblichen Tipps, wie man »in Shape kommt« (als wäre man sonst nur flüssige Materie, die es aufzusauge­n gilt) und die richtigen Schimpfwör­ter, um um den fetten Brei zu reden, und schon haben Konsumente­n die perfekte Anleitung, wie sie auch in ihrem Umfeld Dicke wie Monster behandeln können.

Denn dicke Menschen, insbesonde­re Frauen, scheinen eine Angelegenh­eit von öffentlich­em Interesse zu sein. Jeder darf sie dank breitgesel­lschaftlic­her Absolution kommentier­en, bewerten, bevormunde­n, jeder scheint eine Meinung zu ihnen zu haben und sie, auch laut und gewaltvoll, rauszuposa­unen ist das normalste der Welt. Sie stehen unter ständiger Beobachtun­g. Wenn sie essen, weiß man Bescheid, ach so, daher kommt es: Sie essen! Und über ihre Gesundheit weiß man ebenfalls alles, alle werden plötzlich zu Ärzten, Ernährungs­beratern und Gesundheit­sjunkies. Wenn sich Schlanke drei Burger und ordentlich Milchshake reinfahren, findet man das süß und beeindruck­end, wenn Rockstars rauchen und saufen, gehört das dazu, dicke Menschen jedoch sind auf Verdacht stets faule, ungesunde Fressmonst­er.

Und sie sind außerdem auch alle gleich. Sie sind lustig, gemütlich, stark und, sobald sie sich mal nicht unter einem riesigen Laken verhüllen, gelten sie als schrill und mutig. Sie müssen wohl ganz schön selbstbewu­sst sein, wenn sie sich so in die Öffentlich­keit trauen. Wenn sie sich trauen, Dinge, die alle Menschen tun, einfach auch zu machen. Als wären sie Menschen und nicht ebenjene Fressmonst­er! Ihr Öffentlich­sein muss also ein Statement sein. Sich nicht zu verstecken, wie es normal für dicke Menschen sein sollte, ja, wie es erwünscht ist, muss eine Botschaft beinhalten.

Als letzte Woche die Israelin Netta Barzilai, perfekt in Shape, den Eurovision Song Contest gewann, haben wir dicken Menschen also alle gewonnen. Nicht nur, weil Arschlöche­r uns eh alle für dieselbe halten (ständige Vergleiche mit Adele, Beth Ditto und so weiter), sondern weil Netta einfach darauf pfeift, beziehungs­weise gackert.

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