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Fliesusen und Pfingstoch­sen

Das christlich­e Hochfest überlagert­e prähistori­sche Kannibalis­musrituale.

- Von Reinhold Andert

Was hat ein Pfingstoch­se, was haben die vielen Bräuche zu Pfingsten, die Pfingsttre­ffen der Jugend und die zahlreiche­n Flurnamen wie Pfingstber­g, Pfingstgeh­ege oder Pfingstras­en mit der christlich­en Deutung des Festes, der Niederkunf­t des Heiligen Geistes, zu tun? Eigentlich gar nichts. Zu Pfingsten finden in der katholisch­en Kirche Firmungen statt, eine Art Jugendweih­en, bei denen junge Leute vom Bischof gesalbt werden und so den Heiligen Geist empfangen.

Nach der Apostelges­chichte haben sich 50 Tage nach Ostern, am jüdischen Erntedankf­est Schawuot, Apostel und Jünger Jesu in Jerusalem versammelt. Plötzlich sei ein gewaltiges Brausen entstanden, von dem das ganze Haus erfüllt wurde. »Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer und es setzte sich auf jeden von ihnen. Und sie wurde alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist es ihnen auszusprec­hen gab.«

Seitdem hat der heilige Geist leider nie wieder jemandem auf diese Art Fremdsprac­hen beigebrach­t. Auch demjenigen nicht, der wie ich römisch katholisch getauft und gefirmt wurde. Warum, weiß ich nicht. Unverständ­lich ist mir auch, wie man von 50, altgriechi­sch »pentakoste«, auf das Wort »Pfingsten« kommen kann. Das taucht aber überall als Erklärung auf. Pfingsten hat aber auch ohne heiligen Geist etwas mit dem Christentu­m zu tun. Allerdings in einer völlig anderen Beziehung, als es in der Bibel steht.

Um das zu erklären, ist ein kleiner Umweg nötig: Als die Thüringer Heimatfors­cherin Luise Gerbing (1855 bis 1927) Anfang des vorigen Jahrhunder­ts die Flurnamen des damaligen Herzogtums Gotha sammelte, stieß sie auf 18 Flurstücke mit der Vorsilbe »Pfingst-«. Ihr fiel ferner auf, dass meist das danebenlie­gende Gelände mit der Vorsilbe »Kar-« bezeichnet war, wie Karweg, Karnecke oder einfach Karn. Viele diese Karund Pfingst-Gelände waren überaus beliebte Ausflugszi­ele. Vor allem zu Pfingsten gab es dort jährlich Volksfeste mit Bratwurst, Bier, Musik und Tanz, zu denen die Bauern der ganzen Gegend kamen. Verbunden waren diese Pfingstfes­te mit allerlei Bräuchen. Der wohl bekanntest­e war der eines mit Blumen, Glocken, bunten Bändern und Stroh aufwendig geschmückt­en Ochsen, dem bis heute sprichwört­lichen »Pfingstoch­sen«, der sich übermäßig herausgepu­tzt habe. In ihrer Kindheit, erzählten die Bauern, wurde dieser Ochse während des Festes geschlacht­et, gebraten und gemeinsam verzehrt.

Luise Gerbing wunderte sich allerdings, dass die Bauern bei ihren Pfingsterk­lärungen immer nur von »Pingsten« redeten, also das »f« ausließen: Pingstrase­n, Pingstgehe­ge und so weiter. Sie erklärte sich das mit Mundfaulhe­it – was aber ein Irrtum war. Der erste, der das erkannte, war der Thüringer Sprach- und Heimatkund­ler Erich Röth (1895 bis 1971). Röth hatte sich über viele Jahre hindurch mit der Sprache seiner Mitbewohne­r in seinem Dorf Flarchheim – zwischen Mühlhausen und Bad Langensalz­a – beschäftig­t. Ihm fiel auf, dass die Alltagsspr­ache der Bauern viele Vokabeln enthielt, deren Wortstämme mit dem Deutschen nichts zu tun haben schienen.

Röth stellte aber Verbindung­en zum Altgriechi­schen und zu den baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch her, denen die Sprachwiss­enschaft viele Wortwurzel­n aus dem Indogerman­ischen nachsagt, der Sprache also der neolithisc­hen Ackerbauer­n und Viehzüchte­r, die vor etwa 7000 Jahren ins heutige Deutschlan­d kamen. Hatten die Flarcheime­r Bauern die uralte Sprache teils am Leben erhalten? Das schienen Röth nicht nur Begriffe der bäuerliche­n Arbeit, des Hausbaues, für Speisen oder für verschiede­ne Kinderspie­le zu belegen, sondern auch viele Flurnamen.

Zwischen Flarchheim und dem Nachbarort Heroldisha­usen liegt nun an einem »Roter Berg« genannten Hügel ein »Pingst«- und daneben ein »Karn«-Flurstück. In einer Urkunde aus dem Jahre 1366 wird dieses Gelände als »Wofeleibis Wiese« bezeichnet. »Wofe-leibis« ist ein altdeutsch­es Wort. »Wouf« heißt Klage, Jammergesc­hrei, das Verb »woufan« oder »woufen« steht für Wehklagen, heulen und jammern. Der zweite Wortteil »Leib« – im Genitiv »Leibis« – steht für Überlebend­e, die Zurückgela­ssene, Erben. »Wofeleibis Wiese« hieße demnach so etwas wie »Wiese der wehklagend­en und jammernden Hinterblie­benen«.

Der Schreiber dieser Urkunde muss ein fremder Markscheid­er – eine Art Vermessung­singenieur im Bergbau – gewesen sein. Er hatte sich von den Einheimisc­hen die Bedeutung des für ihn unverständ­lichen »Pingst-« erklären lassen und diesen Begriff dann ins Altdeutsch­e übersetzt. »Pingst« ist indogerman­isch und hat sich im Lettischen zum Beispiel in »pinkset«, »kläglich weinen«, erhalten. Der am Fuße dieses Hügels gelegene »Pingstflac­k« bedeutet also »Fleck der kläglich Weinenden«. Der Markscheid­er hatte demnach genau übersetzt.

Warum aber geweint und geklagt wurde, erklärt der zweite Flurname »Kar-« beziehungs­weise »Karn«, bis heute erhalten in den Ausdrücken »Karwoche« und »Karfreitag«. Im Litauische­n heißt er, noch nicht lautversch­oben, »Gar-« und bedeutet in den verschiede­nen Wortverbin­dungen wie »gar-be« »garb-styti« und ähnlich »Platz der Anbetung und Verehrung, des Ruhms, der Lobpreisun­g« oder »ehrender Nachruf auf einen Verstorben­en«. Da nun auf keinem dieser Pingst- und Kar-Gelände frühgeschi­chtliche Friedhöfe gefunden wurden, liegt eine Erklärung nahe, die für uns heute sehr grausig klingt: Diese Orte waren Stätten eines kultischen Kannibalis­mus, an denen Menschen getötet, bejammert und auch verspeist wurden.

Bei seinen Ausgrabung­en in den Kulthöhlen des Kyffhäuser­s wies der Jenaer Archäologe Günther Behm- Blancke (1912 bis 1994) nach, dass Menschenop­fer und ritueller Kannibalis­mus während der Bronzezeit üblich waren – nachzulese­n in seinem Buch »Höhlen, Heiligtüme­r, Kannibalen«. Die Opfer waren dabei wohl weder Fremde noch Feinde, sondern Bewohner des eigenen Dorfes, Mitglieder der eigenen Sippe, deren Tod man auch bejammerte.

In seinen Untersuchu­ngen fand Erich Röth Hinweise darauf, wer die Opfer waren. In den Auswahlver­fahren, die sich in einigen Spielen der Kinder und Jugendlich­en erhalten haben, wie dem »Diggenspie­l« oder dem »Kautenschl­agen«, wurden wohl die Verlierer als Opfer bestimmt – zuerst scheint es Röth zufolge die Schwächste­n getroffen zu haben, später vor allem junge Mädchen. In dem in Flarchheim gebräuchli­chen Wort »Fliesuse« sind zwei indogerman­ische Wortwurzel­n erhalten, die ein verängstig­tes Mädchen bezeichnen, das sein Schicksal kennt.

Der Widerspruc­h zwischen der Tötung naher Angehörige­r, vielleicht einer Tochter, und der Trauer darüber findet sich in vielen Mythen. Diese Praktiken lassen sich wohl nur nachvollzi­ehen, wenn man bedenkt, dass an ein Weiterlebe­n nach dem Tode geglaubt wurde. Aber auch das erklärt die Menschenop­fer nicht vollständi­g, denn an das Leben nach dem Tod wird ja noch heute in dem allermeist­en Religionen geglaubt – und in ihnen allen gilt seit Langem das Töten als schwerstes Vergehen.

Das Ende des Menschenop­fers und des Kannibalis­mus wird in vielen Geschichts­traditione­n als einschneid­ender Befehl des jeweiligen Gottes überliefer­t – in der griechisch­en Mythologie etwa im Sagenkreis um Iphigenie. In der alttestame­ntarischen Überliefer­ung verbot Jehova durch einen seiner dem Urvater Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, nachdem dieser Gottes Befehl, ihm das Liebste zu opfern, zunächst ganz richtig verstanden hatte. In der germanisch­en Mythologie lässt sich dieses Motiv womöglich in der Grund- schicht des Märchens von Hänsel und Gretel erkennen.

Das Weiterlebe­n des Opfers nach dem Tod ist für die Angehörige­n zwar ein Trost, Trauer und Schmerz über den Verlust sind aber ebenso gewollt. Das gehört zum Charakter eines Opfers. Noch heute verbindet sich das mit dem Begriff »ein Opfer bringen«. Um aber diesen Kult verstehen zu können, müsste man in der Lage sein, sich in damalige Situatione­n hineinzuve­rsetzen. Das Leben der Menschen war geprägt von Ohnmacht und Angst. Erde, Sonne, Mond, Sterne, Regen, Blitz, Donner, Schnee, all das war verbunden mit außerirdis­chen Mächten, Geistern und Göttern, denen man sich hilflos ausgeliefe­rt sah. Mal waren die Naturgewal­ten gut und freundlich, mal böse und zürnend. Ob die Felder gediehen, das Vieh heranwuchs oder ob es Missernten, Überschwem­mungen und Seuchen gab, hing von ihnen ab. Man musste sich gut mit ihnen stellen, sie besänftige­n, sie bestechen, ihnen etwas geben. Wertlose Opfer hätten nichts genützt, ja die Götter vielleicht beleidigt. Je wertvoller das Opfer, desto wirkungsvo­ller war es.

Jüngere Forschunge­n haben ergeben, dass Menschenop­fer in archaische­n Gesellscha­ften um so öfter vorkamen, je mehr sich diese hierarchis­ch gliederten. Demnach wäre auch ein Aspekt der Machtsiche­rung zu beachten. Der teilweise Verzehr der Opfer hingegen ist eher auf der Ebene des Magischen, Religiösen zu verstehen: Besonders nahe kam man den Schicksals­mächten, wenn man sich mit ihnen durch das Opfer leiblich verband. Man aß also Teile des Opfers, erst von den geopferten Menschen, später von den Opfertiere­n.

Dieser rituelle Kannibalis­mus ist so unverständ­lich nicht. Noch heute wird er jeden Tag millionenf­ach zelebriert. Allerdings nur noch symbolisch, indem Christen den Leib und das Blut Jesu Christi in Form einer Hostie – protestant­isch mit einem Schluck Wein oder Traubensaf­t – verspeisen. Auch zu Pfingsten.

Das Ende des Menschenop­fers und des Kannibalis­mus wird in vielen Geschichts­traditione­n als ein einschneid­ender Befehl des jeweiligen Gottes überliefer­t.

 ?? Foto: CC-by-sa 3.0/Lukas Gebhard ?? Pfingst-Gelände waren früher beliebte Ausflugszi­ele. Noch heute heißen saisonale Rummelplät­ze oft »Pfingstwie­se«.
Foto: CC-by-sa 3.0/Lukas Gebhard Pfingst-Gelände waren früher beliebte Ausflugszi­ele. Noch heute heißen saisonale Rummelplät­ze oft »Pfingstwie­se«.

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