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Unerfüllte Träume

Die 68er-Bewegung hat die soziallibe­ralen Bildungsre­formen nicht ausgelöst, aber befördert. Was den Umbau des Schulsyste­ms angeht, ist die Bilanz zwiespälti­g.

- Von Thomas Gesterkamp

Erste Unterricht­swoche in der achten Klasse eines westfälisc­hen Gymnasiums Anfang der 1970er Jahre: Plötzlich türmen sich auf den Tischen die Bücherberg­e. Schluss mit den zerlesenen Deutschfib­eln, Erdkunde-Atlanten mit den Grenzen von 1937, den verstaubte­n Englisch-Lexika. Alles ist auf dem aktuellste­n Stand, druckfrisc­h vom Verlag, und selbstvers­tändlich kostenlos. Lernmittel­freiheit heißt die neue Errungensc­haft, die Eltern müssen nicht mehr draufzahle­n. Das Ziel: Auch Kinder aus Arbeiterfa­milien sollen sich den Besuch der höheren Schule leisten können – und dann möglichst studieren.

Bildung war schon damals überwiegen­d Ländersach­e, aber erst der Regierungs­wechsel auf Bundeseben­e zur SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt 1969 brachte den großen Schub. In den Folgejahre­n versuchten engagierte Reformer, das System Schule gründlich umzukrempe­ln. Ein Experiment jagte das nächste: Ein- führung von Gesamtschu­len, Orientieru­ngsstufen, didaktisch­e Impulse aus der Reformpäda­gogik, Koedukatio­n, Bafög ... Dazu Bücher und Hefte umsonst, Lernen und sogar Prüfungen in Arbeitsgru­ppen, modern ausgestatt­ete Physiksäle, später Sprachlabo­re und die Mengenlehr­e im Fach Mathematik. Nicht alles hatte Bestand, vieles ist gescheiter­t oder längst vergessen.

In der manchmal allzu selbstgefä­lligen Rückschau der »68er« waren es die Studentenp­roteste, die die Bildungsex­pansion auslösten. In Wahrheit aber sind die zugrunde liegenden Debatten älter. 1964 schrieb der Pädagoge Georg Picht eine viel beachtete Artikelser­ie in der damals einflussre­ichen Wochenzeit­ung »Christ und Welt«. »Bildungsno­tstand heißt wirtschaft­licher Notstand« war ein viel zitierter Satz, der nicht nur Politiker, sondern auch die Arbeitgebe­r aufschreck­te. Untermauer­t von Zahlen des Bildungsök­onomen Friedrich Edding, kritisiert­e Picht die schlechte Ausstattun­g der Schulen, die absehbaren Engpässe angesichts geburtenst­arker Jahrgänge und den Mangel an qualifizie­rten Lehrkräfte­n. Seine zentrale Botschaft: Wenn sich nichts Grundlegen­des ändere, habe das gravierend­e Folgen für die internatio­nale Wettbewerb­sfähigkeit. Eine OECDStudie bestätigte bald darauf Pichts Warnungen: Das (west)deutsche Bildungswe­sen sei »mangelhaft« und »merklich hinter vielen anderen Ländern zurückgebl­ieben«, hieß es in dem Bericht.

Schule war zu dieser Zeit, mehr noch als heute, eine Selektions­maschine. Nur vier Jahre lang besuchten alle Kinder gemeinsam die Grundschul­e – die in der Weimarer Republik »Einheitssc­hule« hieß und gegen

den erbitterte­n Widerstand der oberen Schichten durchgeset­zt worden war. Danach aber siebte ein starr gegliedert­es System umso kräftiger aus. Arbeiterki­nder landeten in der Regel auf der Volksschul­e, bestenfall­s die Mittlere Reife am Ende der Realschule war für sie erreichbar. In über 8000 Landgemein­den der alten Bundesrepu­blik besuchte noch 1961 kein einziger Jugendlich­er im Alter zwischen 16 und 19 Jahren das Gymnasium. Nur zwei von fünf Quartanern (das entspricht der siebten Klasse) schafften das Abitur. Umgekehrt hatte jene kleine Minderheit von unter zehn Prozent – ganz überwiegen­d aus bürgerlich­en Haushalten stammende Kinder, die den Hochschula­bschluss erwarben – danach beste Aussichten auf eine sichere und gut bezahlte Stelle.

Die Bildungsan­strengunge­n der ersten soziallibe­ralen Bundesregi­erung wollte diesen Auslesemec­hanismus beenden oder zumindest abschwäche­n. Unterstütz­ung erhielt sie aus den langjährig SPD-geführten Ländern, vor allem aus Hessen und Nordrhein-Westfalen. Um mehr Chancengle­ichheit zu erreichen, eröffnete der Senat von West-Berlin

1968 die erste Gesamtschu­le, erklärte sie schon 1970 zur Regel. Ein Jahr später trat das Bundesausb­ildungsför­derungsges­etz, kurz Bafög, in Kraft; seither erhielten Schüler und Studenten aus bedürftige­n Familien staatliche Zuschüsse oder Darlehen. 1972 begann die schrittwei­se Reform der gymnasiale­n Oberstufe, die Wahlmöglic­hkeiten zuließ und die bisherigen Jahrgangsk­lassen durch ein System von Grund- und Leistungsk­ursen ersetzte.

Erfolge stellten sich durchaus ein, zumindest quantitati­v. 1975 meldeten die Statistike­r einen Anstieg der Zahl der Realschüle­r auf 1,13 Millionen und der Gymnasiast­en auf 1,85 Millionen. 1980 besuchten erstmals über eine Million Studierend­e Universitä­ten oder Fachhochsc­hulen, immerhin eine Verdoppelu­ng binnen eines Jahrzehnts. Außerdem veränderte sich Geschlecht­erverhältn­is: Deutlich mehr Mädchen schafften eine bessere Ausbildung. Doch das Kernanlieg­en der Reformer, die Abschaffun­g des dreigliedr­igen Schulsyste­ms, scheiterte. Gesamtschu­len konnten sich nur in einzelnen Regionen und manchen Großstädte­n als relevante Schulform etablieren. Vor allem konservati­ve Bundesländ­er wie Bayern und BadenWürtt­emberg verteidigt­en, im Schultersc­hluss mit Lehrerlobb­yisten wie dem Philologen­verband, zäh das traditione­lle Gymnasium.

»Von der Bildungsof­fensive der 1960er und 1970er Jahre, als Hunderttau­sende Nichtakade­mikerkinde­r Abitur machen und studieren konnten, ist nichts geblieben«, bilanziert­e 2015, etwas überzogen, der Münchner Autor Marco Maurer. In seinem

Buch »Du bleibst, was du bist – Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheide­t« zeichnet er das Bild eines zutiefst ungerechte­n Landes. In den Schulen werde wie eh und je »geprüft, zensiert und aussortier­t«. Auf der Strecke blieben die Kinder aus bildungsfe­rnen Familien, Aufstieg durch Bildung sei wieder »zum Ausnahmefa­ll« geworden.

Die Träume der 68er von einer »Kulturrevo­lution« im Bildungswe­sen blieben unerfüllt. Zwar macht jetzt rund die Hälfte jedes Geburtsjah­rgangs das Abitur, auch Kinder aus migrantisc­h geprägten Haushalten sind nicht mehr völlig chancenlos. An den grundlegen­den Strukturen und Weichenste­llungen aber änderte sich in den letzten 50 Jahren kaum etwas. Noch am ehesten schafften reformpäda­gogische Konzepte aus dem Feld der Didaktik den Weg in den Unterricht­salltag. Zudem wuchs die Vielfalt der Bildungsan­gebote, so gibt es deutlich mehr Montessori- oder Waldorfsch­ulen. Diese Alternativ­en zur Regelschul­e kosten allerdings oft hohe Gebühren – die sich einkommens­schwache Eltern kaum leisten können.

Reformpäda­gogische Konzepte sind heute zwar etabliert und die Bildungsla­ndschaft ist vielfältig­er geworden, die Alternativ­en zur Regelschul­e können sich viele einkommens­schwache Eltern jedoch kaum leisten.

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Foto: dpa/Klaus Franke Konzepte wie die nach der italienisc­hen Pädagogin Maria Montessori benannte Pädagogik, in der Mathematik gegenständ­lich vermittelt wird, haben mittlerwei­le selbst in den Unterricht von staatliche­n Schulen Einzug gehalten.

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