nd.DerTag

Mehr Bildung wagen

Von dem 68er-Geist ist in der Schulpolit­ik wenig übrig geblieben, meint Lena Tietgen

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Den Bildungsre­formen der Vergangenh­eit ist eines gemein: Sie alle hatten das Ziel, die sogenannte Humanresso­urce zu optimieren. Allerdings ist der Bildungsau­fbruch der 68erRebell­ion nicht ohne seine gesellscha­ftlich und individuel­l emanzipato­rischen Anteile zu verstehen. Die aus der Reformund Freien Pädagogik stammenden Ideen der Selbstbild­ung gingen damals Allianzen ein mit Vorstellun­gen sozialer Gerechtigk­eit und Chancengle­ichheit. Die historisch­e Situation erforderte das Aufbrechen nunmehr funktionsl­os gewordener autoritäre­r Strukturen und brauchte progressiv­e, linke Positionen und Protagonis­ten. Diese waren nicht nur einfach Büttel einer marktkonfo­rmen Logik, sondern Impulsgebe­r für Alternativ­en, die leider über den Marsch der Institutio­nen im Mainstream des Neoliberal­ismus versickert­en.

Spätestens mit Veröffentl­ichung der ersten PISA-Studie zu Beginn der 2000er Jahre und der nachfolgen­den bildungspo­litischen Debatte wurde der emanzipato­rische Gehalt der Reformpäda­gogik entsorgt und durch Leistungso­rientierun­g ersetzt. Seitdem verliert Bildung sukzessiv ihren ursprüngli­chen Charakter. Heute wird Bildung durch die Vorgaben der OECD dominiert. An die Stelle eines gesellscha­ftlich nennenswer­ten Erkenntnis­gewinns und einer breiten Allgemeinb­ildung sind Wissens-Inseln getreten.

Gerade im Hinblick auf die Entwicklun­g eines digitalen Kapitalism­us ist dies fatal. Die sogenannte Industrie 4.0 braucht Raum für Wahrnehmun­g gesellscha­ftlicher Verantwort­ung. Das geht einher mit sozialen, kommunikat­iven und geistig kreativen Kompetenze­n aller Menschen gleich welcher Facetten geistiger Intelligen­z. Gesellscha­ft zu gestalten, wird so immer dringliche­r.

Es ist also Zeit, den Pfad der Zweckoptim­ierung zu verlassen und gesellscha­ftliche Alternativ­en zu entwickeln. Notwendig sind keine neuen Reformen, sondern ein Paradigmen­wechsel in der Zielsetzun­g von Bildung.

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