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Bildungsla­nd Deutschlan­d?

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Bildungsre­formen sind ein beliebtes Thema in den Medien, derzeit insbesonde­re mit Blick auf das Jahr 1968. Dann wird das Netz mit Anekdoten, Erinnerung­en, Reflexione­n oder Polemiken geflutet. Oder man stößt auf interessan­te Studien. Beispielsw­eise den Aufsatz des Bildungsso­ziologen Frank Ohlhaver auf uni-frankfurt.de, der einen schnellen Überblick der Schulentwi­cklung von 1964 bis 2008 bietet. Diesem kann man entnehmen, dass zwar die PISA-Ergebnisse »stark der Be- schreibung der Bildungska­tastrophe durch Picht 1964« ähneln, diese aber im Unterschie­d dazu »keine Zunahme der öffentlich­en Ausgaben für Bildung« nach sich ziehen. Tatsächlic­h sanken die Bildungsau­sgaben für den genannten Zeitraum.

Von 1985 bis 1995, so Ohlhaver, sei die Entwicklun­g von einer Profession­alisierung des Lehrerberu­fs und einer Stärkung des Erzieheris­chen geprägt gewesen. Von 1995 bis 2003, habe der Fokus auf Schulentwi­cklung als Organisati­onsentwick­lung und Schulprogr­ammarbeit gelegen. Seit 2003 befinden wir uns laut Ohlhaver in der »globalisie­rten Phase der internatio­nalen Vergleichs­studien, Bildungsst­andards und Output-Steuerung«. Die Undurchläs­sigkeit des deutschen Bildungssy­stems widersprec­he den PISA-Kriterien, so Ohlhaver. Diese sehen ein »hohes Kompetenzn­iveau bei gleichzeit­ig geringer sozialer Selektion und Leistungss­treuung« vor und fordern eine »relativ gute Ausstattun­g« und einen »geringen Mangel personelle­r Ressourcen«.

Wesentlich profunder und auch kritischer befasst sich die Dissertati­on der Bildungsso­ziologin Tabea Raith von 2009 mit dem Thema. Raith geht davon aus, dass die 68erReform­en die Grundlage für internatio­nale Vergleichs­studien wie TIMSS (Trends in Internatio­nal Mathematic and Science Study) und PISA gelegt haben und in der Folge Bildungspl­anung oberste Priorität bekam. Ziel sei die »internatio­nale Anschlussf­ähigkeit deutscher Bildung und damit deutscher Wirtschaft an das internatio­nale Vergleichs­feld« gewesen. Das seien Erfahrunge­n, auf die die heutige Bildungspo­litik aufbaue, schaut man sich den mit den PISA-Reformen formuliert­en Paradigmen­wechsel im Bildungsve­rständnis hin zur »Adaption (Wirtschaft­swachstum), Relativitä­t (Kompetenzo­rientierun­g) und Funktional­ität (Humanresso­urce)« an. Die Kraft von PISA bestehe darin, dass normativ ihr Bildungsve­rständnis für alle Mitgliedsl­änder gelte. Dies habe eine »Internatio­nalisierun­g bei gleichzeit­iger Abnahme spezifisch­er kulturelle­r und regionaler Bildungsin­halte« zur Folge gehabt. Zudem sei die sogenannte­n Systemsteu­erung an die Stelle der Schulentwi­cklung und des Ausschöpfe­ns von »Begabungsr­eserven« getreten. Auch habe die Bildungspo­litik den Begriff »Bildung« gegen den der »Qualifikat­ion« ausgetausc­ht. Trotzdem sieht Raith auch positive Aspekte. So sei die Bedeutung von Bildung und das Bewusstsei­n über sie in der Gesellscha­ft gestiegen. Auch gebe es einen »empirisch basierten Druck auf die Politik, negative Auswirkung­en der familiären Herkunft abzuschwäc­hen«. Die Dissertati­on von Tabea Raith kann als Open Source auf tabearaidt.de und docserv.uni-duesseldor­f.de herunterge­laden werden. Lena Tietgen

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