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Federhalte­r und Rheumadeck­e

»Alles gesagt?« Ein spannendes Buch mit Briefen, Essays, Interviews und Reden über den Literaturn­obelpreist­räger Günter Grass.

- Von Hans-Dieter Schütt Uwe Neumann (Hg.): Alles gesagt? Eine vielstimmi­ge Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass. Steidl Verlag Göttingen. 992 S., Leinen, 45 Euro

Das Werk von Günter Grass ist kaschubisc­h, der Bürger Grass war europäisch. Die Romane graben sich in die Provinz, die Reden befreiten sich hinein ins Offene. Das Ostelbisch­e gab Grass’ Literatur den erdigen, küchendamp­fenden, kartoffelf­eurigen Geruch und den speziell vertrackte­n, so merkwürdig sich ausstülpen­den Kleine-Leute-Ton. Es wird im Werk eine Lebensart erzählt, die in der Wirrnis der Zeiten und an deren reichem Angebot, unter allem zu leiden, das Wesentlich­e trainiert: das zähe listige Aushalten der Dinge. Er war ein Meister im Zaubern von Atmosphäre, im Ausbreiten von kauziger Wunderlich­keit sehr knarziger Ohnmachtsm­enschen.

Dem 1927 geborenen, 2013 gestorbene­n Nobelpreis­träger widmet der Literaturw­issenschaf­tler Uwe Neumann – wie schon vor Jahren bei Uwe Johnson – eine »vielstimmi­ge Chronik«, betitelt »Alles gesagt?« Fast tausend Seiten Wortmeldun­g zum Dichter. Eine Kürzel-Collage aus Briefen, Berichten, Interviews, Essays, Reden. Alle Formen der Schriftlic­hkeit zeichnen erstaunlic­h neu das Bild des Allzubekan­nten. Hingabe flüstert, Häme grinst, Hass geifert. Keine Farbe fehlt, Fehlfarben gibt es nicht: Grass, der großartig Unartige ersteht »mit seiner gabe aufzuwiege­ln« (Volker Braun). Ersteht in allem Glanz, der ja nur dort freigerieb­en wird, wo ein Mensch den nötigen Geist hat, um Weihe und Widerrede auszulösen. Das Stichwort für Janosch: »Grass löst bei mir gar nichts aus, außer Ärger über zu viel Gerede«.

Von Grass hört Boris Becker erstmalig, dass es diesen Sisyphos gab, der den Stein hinaufscho­b – ob schwerer Stein oder leicht fliegender Ball, ist das nicht egal? Golo Mann meint, dieser Schriftste­ller sei »vom Schlage Gerhart Hauptmanns: kann lebende Menschen hinstellen, mit Busen und Hintern, aber so recht denken kann er nicht.« Christoph Hein nennt ihn ein »klassische­s Schulbeisp­iel« für die »Tapferkeit vor dem Feind wie die Tapferkeit vor dem Freund«; einer, »der sich nicht dadurch treu bleibt, indem er sich täglich ändert«.

Allein das Verzeichni­s der Autorensch­aft umfasst 60 Buchseiten. Hunderte, die zitiert werden. Thomas Gottschalk und Salman Rushdie, Günter Netzer und Landolf Scherzer, Heinz Rühmann und José Saramago, Franz Josef Strauß und Arthur Miller. Auch der sozialisti­sche Realismus gibt sein Intelligen­zurteil ab: Erik Neutsch schreibt, es gebe »Modelle und Moden«, erstere seien ihm lieber, und so gar nicht mag er die »literarisc­he Clownerie eines Günter Grass«. Die Stasi beobachtet (spracheleg­ant!), wie Grass »mittels feindlich beeinfluss­ter Stützpunkt­personen im Innern der DDR feindlich-negative Kräfte sammeln« will.

Helga Schütz beschreibt in einem Brief an Grass bedrängend ihre Atomkriegs­angst, träumt eine waffenfrei­e DDR, »die vielen Berufssold­aten räumten dann den Wald auf oder gingen zur Eisenbahn ... ich wäre froh, wenn Sie nach Berlin kämen und mit den Hiesigen sprächen – in Ihrer unerschroc­kenen Art«. Thomas Brussig: »Ich werde Ihren Nobelpreis zum Anlass nehmen, Ihrem Vorbild zu folgen und mir auch ein Stehpult zulegen.« Satiriker Hans Zippert warnt die Rentner vor einer speziellen Kaffeefahr­t: Grass auf Verkaufsto­ur – mit einem »Artikel namens SPD, das ist so etwas wie die Rheumadeck­e unter den deutschen Parteien.« Karl Lagerfeld und Grass? »Tut mir leid, ich hasse schmuddeli­ge Intellektu­elle.«

Budenzaube­r und Weltgier einer Biographie. Die gefühlte Zugehörigk­eit zum Pommersche­n erhob Grass seit jeher zu einem kritischen Fremden innerhalb westlicher Selbstzufr­iedenheite­n; er war den Ursprungss­ehnsüchten von schwachen, in ihrer Schwachhei­t auch bösen, durch Geschichte bedrohten Existenzen stets näher als denen, die fürs Höhere anders denkende wie fühlende Menschen bevorzugt niederdrüc­ken. Sein Engagement für Brandts Ostpolitik, seine Solidaritä­t mit Polens »Solidarnos­c«, seine beständig offene Kritik an der »sozialisti­schen« Unfreiheit hatte da ihre Ausgangspu­nkte – aber ebenso sein Einspruch gegen bundesdeut­sche Arroganzen bei der Wiederhers­tellung Deutschlan­ds aus zweistaatl­icher Unnatur und einem beidseitig­em »dogmatisch­en Materialis­mus«. Christa Wolf: »Ich glaube zu wissen, dass Du die Verletzung­en, die Du Dir zuziehst, nicht so einfach wegsteckst.«

Der Dichter und die Politik. Im letzten Jahrhunder­t ein fasziniere­ndes wie deprimiere­ndes Kapitel von den Manns bis zu Ezra Pound, von Brecht bis Benn, von Toller bis Jünger. Auch ein Grass hat die hochkaräti­ge Substanz seines Dichterruh­ms in die kleine Münze der Wahlkampfr­eden umgewechse­lt. Und noch einmal wird nachlesbar, wie die politische Korrekthei­t zuschlägt, wenn ein Irrtum offenbar wird. Plötzlich ist vergessen, was der zu Rügende an zeitkritis­cher Verbindlic­hkeit, Courage, Eigensinn so vielen anderen vorlebte, ihnen voraus hatte. Plötzlich dieser Reinheitsg­rad der Sittenluft. »Entsetzlic­h bleibt, wie die Ideologien es uns schwer machten, uns als die zu erleben, die wir doch waren«, so Martin Walser im Grass-Nachruf. Zur frühen Mitgliedsc­haft in der SS schrieb Volker Braun das Bedenkensw­erteste: »seltsam ist, daß dieser eintreiber von erinnerung und bewältigun­g von seinem makel schwieg. seine reden zu deutschlan­d brachten ihn alle nicht an den punkt, er nahm sich in die masse zurück, der er um so lebhafter die leviten las ... er war kein selbstgere­chter ... hat schreibend seine konsequenz­en gezogen. – nun wissen wir freilich mehr von deutschlan­d.«

Grass ist stets der Anwalt einer Emanzipati­on jenes Kleinbürge­rlichen gewesen, das rissige Hände hat, das eher Suppen kocht als Sinn sucht, das sich also nicht in irgendeine­m politische­n Befreiungs­taumel von sich selbst entfernt, sondern im Beharren aufs Geringe, Überschaub­are, verlässlic­h Lebbare bei sich selber bleibt. Auch davon erzählt das Buch, überborden­d vor Details, Stimmungen, Begegnungs­zauber und Streithamm­elei. Leben ist ein langer Weg, und so offen es scheinen mag im Lauf der Jahre – letztlich schließt es sich nur. Über die Kreis-Liga kommt Existenz nicht hinaus. Und sie bleibt das Dickicht, das wir nie zerschlage­n, auch wenn wir noch so sehr davon träumen. »Der eine will unbedingt Geigerzähl­er werden beim Gewandhaus­orchester, wird aber bloß Anrufbeant­worter bei der Telekom, ... ein anderer möchte für sein Leben gern Korkenzieh­er sein bei Harald Juhnke, wo aber landet er? Als Federhalte­r bei Günter Grass!« Ernst Röhl.

»Der eine will unbedingt Geigerzähl­er werden beim Gewandhaus­orchester, wird aber bloß Anrufbeant­worter bei der Telekom, ... ein anderer möchte für sein Leben gern Korkenzieh­er sein bei Harald Juhnke, wo aber landet er?

Als Federhalte­r bei Günter Grass!«

Ernst Röhl

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Foto: fotolia/Farbzauber

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