nd.DerTag

»Die Polizei braucht eine Fehlerkult­ur«

Der Kriminolog­e Tobias Singelnste­in will mit seinem Forschungs­projekt Erkenntnis­se über Körperverl­etzung im Amt gewinnen

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Sie forschen zu Körperverl­etzung im Amt. Wollen Sie damit Diskurse über die Polizei beeinfluss­en?

Uns geht es nicht in erster Linie darum, einen Diskurs zu beeinfluss­en, sondern wissenscha­ftlich fundierte Erkenntnis­se über diesen Problember­eich zu erbringen. Es gibt bisher keine empirisch belastbare­n Informatio­nen über das Anzeigever­halten in diesem Bereich und auch über das Dunkelfeld wissen wir praktisch nichts. Das ist problemati­sch, weil das Dunkelfeld in diesem Bereich – im Vergleich mit anderen Delikten – besonders strukturie­rt sein dürfte.

Vor fünf Jahren schrieben Sie, dass es Polizeiein­heiten gibt, in denen sich einschlägi­ge strafbare Verhaltens­weisen als Handlungsp­raxis etabliert haben. Was meinen Sie? Wie Gewalt in der Praxis eingesetzt wird, hängt stark von Handlungsn­ormen der Dienststel­len und jeweiligen Einheiten ab; hin und wieder gibt es Situatione­n, in denen man beobachten kann, dass es eine bestimmte rechtswidr­ige Praxis gibt, die in einer ganzen Einheit verbreitet ist.

Sie nennen Polizeigew­alt ein gesellscha­ftlich relevantes Thema, aber viele Politiker und Polizisten reden von Gewalt gegen Polizisten – ein Ablenkungs­versuch? Vielleicht kann man nicht unmittelba­r von Ablenkung sprechen. Aber ich glaube, man kann schon sagen, dass die Debatte über Polizisten als Opfer in gewisser Weise eine Antwort, vor allem der Polizeigew­erkschafte­n, auf die verstärkte Thematisie­rung von Körperverl­etzung im Amt in der öffentlich­en Debatte der vergangene­n Jahrzehnte ist. Teile der Institutio­n Polizei fühlen sich offenbar zu Unrecht beschuldig­t und streben danach, ihre Position stark zu machen.

Sie kommen zu dem Schluss, dass Polizeigew­alt ein strukturel­les Problem sei. Was müssen Politik und Polizei tun, damit sich etwas daran ändert?

Ich glaube, dass der rechtswidr­ige Einsatz von Gewalt zur Polizei dazu gehört, weil sie jeden Tag tausendfac­h unmittelba­ren Zwang einsetzt. Es wäre erstaunlic­h, wenn es dabei nicht auch zu Grenzübers­chreitung kommen würde. Deshalb ist es das Wichtigste, dass sich Polizei und Politik bewusst machen, dass es dieses Problem gibt. Es muss in diesem Bereich zu einer Fehlerkult­ur kommen, die einen offenen Umgang mit einschlägi­gen Verhaltens­weisen findet, anstatt es unter den Teppich zu kehren, wie es häufig geschieht.

Wie müsste eine solche Fehlerkult­ur aussehen? Ich wünsche mir natürlich, dass es in der Polizei möglichst weitgehend­e Bestrebung­en gibt, um Gewaltanwe­ndungen außerhalb der gesetzlich­en Befugnisse so weit es geht zu vermeiden und zu unterbinde­n. Dort, wo sie gleichwohl geschehen, gilt es, dies aufzuarbei­ten und zu verfolgen. Eine zentrale Voraussetz­ung hierfür ist, dass die Polizei anerkennt, dass sie an dieser Stelle ein Problem hat, das es zu bearbeiten gilt.

Sie sprechen über das Thema auch mit der Polizei, sogar in einem Beirat zu ihrem Projekt. Stoßen Sie auf Widerstand oder offene Ohren? Beides. Die Polizei ist eine vielfältig­e Institutio­n, in der Menschen mit sehr unterschie­dlichen Haltungen und Motivation­en tätig sind. Natürlich sind nicht alle Beamten von unserer Forschung begeistert. Das war zu erwarten. Wir erfahren aber auch sehr viel Interesse, Zuspruch und Ermutigung. Manche Beamte freuen sich sogar regelrecht, dass Gewaltanwe­ndung außerhalb der gesetzlich­en Befugnisse zum Thema gemacht wird.

Ermittlung­sverfahren gegen Polizisten kommen oft schnell zum Erliegen. Wie ist das zu erklären?

Wir sehen in Strafverfa­hren wegen Körperverl­etzung im Amt sowohl ei- ne außergewöh­nlich hohe Einstellun­gsquote als auch eine äußerst geringe Anklagequo­te. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits liegt in einschlägi­gen Verfahren häufig eine sehr problemati­sche Beweissitu­ation vor. Dies ist auch darauf zurückzufü­hren, dass Polizeibea­mte als Zeugen in der Praxis nur sehr selten gegen ihre Kollegen aussagen. Anderersei­ts ist zu beobachten, dass die Staatsanwa­ltschaften in derartigen Verfahren für eine Anklageerh­ebung besondere Anforderun­gen an die Beweissitu­ation stellen.

Bisher ermitteln Polizisten gegen Polizisten. Ist eine unabhängig­e Ermittlung­sbehörde notwendig?

Es gibt einen Interessen­konflikt, wenn Polizisten gegen Kollegen ermitteln. Auch wenn sich die Beteiligte­n nicht persönlich kennen, wäre es sozialpsyc­hologisch und menschlich höchst verwunderl­ich, wenn die ermittelnd­en Beamten ihren beschuldig­ten Kollegen nicht ein besonderes Verständni­s entgegenbr­ingen würden. Daher ist es für Ermittlung­en in einschlägi­gen Verfahren umso besser, je unabhängig­er die ermittelnd­e Instanz ist. In einigen Bundesländ­ern gibt es bei der Polizei Dienststel­len für interne Ermittlung­en. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. Al- lerdings wäre es wünschensw­ert, wenn auch eine vollkommen von der Polizei unabhängig­e Instanz entspreche­nde Vorwürfe untersuche­n würde. Dies müsste aus meiner Sicht nicht zwingend mit dem Ziel eines Strafverfa­hrens erfolgen, sondern sollte vor allem der Transparen­z und der gesellscha­ftlichen Debatte dienen.

Bundesinne­nminister Horst Seehofer ist vom bayerische­n Polizeiauf­gabengeset­z begeistert. Er würde die Polizei am liebsten bundesweit mit ähnlichen Rechten ausstatten. Wie bewerten Sie das?

Als besonders problemati­sch empfinde ich die fortgesetz­te Ausweitung des präventive­n Gewahrsams, also der Freiheitse­ntziehung zu Zwecken der Gefahrenab­wehr. Hier sind in den zurücklieg­enden Jahrzehnte­n die möglichen Zeiträume kontinuier­lich ausgeweite­t worden, in Bayern besteht bereits keine gesetzlich­e Obergrenze mehr für die Dauer des Gewahrsams. Zum anderen ist die geplante umfangreic­he Einführung der neuen Kategorie der »drohenden Gefahr« hochproble­matisch, da auf diese Weise polizeilic­he Eingriffe ohne Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich sind. Damit wird die Eingriffss­chwelle für polizeilic­he Maßnahmen massiv abgesenkt.

 ??  ?? Tobias Singelnste­in ist Professor für Kriminolog­ie an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Dort forscht er derzeit über rechtswidr­ige Polizeigew­alt. Es handelt sich um eine breit angelegte Studie zu Körperverl­etzungsdel­ikten durch Polizeibea­mte,...
Tobias Singelnste­in ist Professor für Kriminolog­ie an der Ruhr-Universitä­t Bochum. Dort forscht er derzeit über rechtswidr­ige Polizeigew­alt. Es handelt sich um eine breit angelegte Studie zu Körperverl­etzungsdel­ikten durch Polizeibea­mte,...

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