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Seine Engländer sind ihm heilig

Philharmon­ie Berlin I: Der RIAS-Kammerchor beeindruck­t mit Werken verfemter Komponiste­n

- Von Stefan Amzoll

Wann gab es je verfolgte, verbotene englische Komponiste­n? Weiß das europäisch­e Gedächtnis darüber? Sie gab es, wenn nicht zu allen Zeiten der englischen Kunstmusik, so mindestens während der Reformatio­n und Gegenrefor­mation um 1600. Das ist kaum bekannt. Ebenso wenig, es sei etwas weiter ausgeholt, dass britische Komponiste­n in Nazideutsc­hland nicht oder nur versteckt zu Gehör kamen. Der Name des jungen Benjamin Britten (Violinkonz­ert, »Sinfonia da Requiem« der 40er Jahre) etwa stand wie der des Juden Mendelssoh­n – er sah in England seine zweite künstleris­che Heimat – auf dem Index, sofern seine Musik je zur Kenntnis genommen wurde. England war der Erzfeind, dessen Kunst- und Geistessch­affende feindliche Ausländer.

Rückschaue­nd kommt dazu: Komponiste­n wie Purcell, Dowland, Byrd, Dering oder Philips erlebten die Reformatio­n anders als ihr deutsch-protestant­ischer Kollege Heinrich Schütz. Die Negation altenglisc­her Kirchenmus­ik im »Dritten Reich« hängt unmittelba­r zusammen mit der Anschauung von Luthers Reformatio­n. Die schliffen die Nazis auf die Niedrigkei­t ihres eigenen Geistes herunter. Luthers Johanneum-Übersetzun­g mit dem »Kreuziget ihn!« (die Juden hätten Jesus getötet) brachten sie ebenso gegen das Volk der Juden in Stellung wie den zelotische­n Antisemiti­smus des späten Luther.

Die Gegenrefor­mation, gespiegelt in der »Bartholomä­usnacht« (Mord an französisc­hen Protestant­en), ist ein Reflexpunk­t. Ein anderer, verdrängte­r, was die europäisch­e Reformatio­n angerichte­t hat. Viele katholisch­e Klöster und Gotteshäus­er wurden zerstört oder umgewidmet, katholisch­e Glaubenski­nder, Priester, Beamte, Handwerker, Dichter, Musiker, Komponiste­n durch den Extremismu­s der Reformatio­n malträtier­t, eingesperr­t, gevierteil­t, gehenkt, verbrannt, außer Landes gejagt. Der Kenntnisma­ngel darüber geht bis heute.

Der RIAS-Kammerchor öffnete nun einen Schlitz dieser Historie und führte verfemte und verjagte Komponiste­n jener Zeit auf. Sein jüngstes Programm, es kam im leider nur halb besetzten Kleinen Saal der Philharmon­ie, trägt den Titel »Geniale Meister – Der Heimat so fern«. Dem unübertref­flichen Berliner Chor steht seit Saisonbegi­nn mit Justin Doyle ein Brite vor. Doyle schlug großartig ein. Erfolge mit Monteverdi, Britten und anderen ergaben sich wie von selbst.

Er, wie seine Vorgänger von hoher Musikalitä­t, ist traditions­bewusst, ohne Traditiona­list zu sein. Vor- und zurückscha­uend, dirigiert der Mann um die vierzig neue Chöre mit der selben Verve wie alte und was so dazwischen­liegt. Natürlich sind ihm seine Engländer heilig. Verfolgte, Ausgegrenz­te, Exilanten aus dem historisch­en England studierte er diesmal ein. Derlei kennenzule­rnen, fehlte hier bisher. Hochintere­ssant, der Abend. Das Programmhe­ft informiert­e vorzüglich über geschichtl­iche Hintergrün­de.

Gesungen wurden unreformie­rbare Meister der katholisch­en Kirchenmus­ik. Mehrere »Halleluja«-Gesänge von Peter Philips (um 1560 – 1628) kamen zu Beginn, eingefloch­ten »Miserere«-Partien. Festliches und Trauer vermischte­n sich, höhere wie tiefere Register, versinnlic­ht mit Stimmen von hoher Homogenitä­t und knapp begleitet durch Orgel-Positiv. Philips musste 1581 emigrieren. Er reiste nach Rom und wurde wegen des Verdachts auf Verschwöru­ng beinahe nach England ausgeliefe­rt. Vermutlich stand er in Kontakt mit seinem Landsmann Richard Dering, Komponist und Organist an europäisch­en Höfen (um 1580 – 1630), von dem gleichfall­s mehrere Chöre zur Aufführung kamen, darunter das lebendige, schon in die Epoche der Homophonie weisende »Ave Jesu Christe«. Es stand am Schluss. Dering konvertier­te 1625 aus Protest zum Katholizis­mus.

Kurios: Er avancierte zum Lieblingsk­omponisten des Katholiken­fressers Oliver Cromwell. Als würden die Stimmen ewig kreisen unter den 100 Lampen des Saales, intonierte der Chor »Ne irascaris Domine« von William Byrd (um 1543 – 1623). Zwei Strophen enthält er, die eine gemächlich, die andere leise, largo, getragen, in höchster Empfindung. Äußerst gedehnt am Schluss die Verse: »Die Städte deines Heiligtums sind/ Wüste geworden;/ Zion ist zur Wüste geworden, / Jerusalem liegt zerstört.«

Gleichfall­s wie Stromlinie­n durch die Kirchenton­arten a cappella polyphon kreisend: Byrds durchkompo­niertes »Lulla, lullaby«. Auch hier ein Menetekel am Ende: »O weg, o trauervoll­er Tag,/ wenn Teufel ihren Willen haben.« Byrd komponiert­e zeitweise für den Untergrund, für Gottesdien­ste in Kellern und Kammern. Jahrzehnte erfährt er Bestrafung­en wegen seiner Kontakte zu englischen Katholiken. Neben den genannten sang der hervorrage­nd disponiert­e Chor widerständ­ige Stücke von Thomas Tallis und Philippe de Monte. Organist Petteri Pitko spielte in stoischer Manier Intermedie­n von John Bull (um 1543 – 1623). Sie lockerten auf, boten Möglichkei­t zur Einkehr. Ein schöner, auch lehrreiche­r Abend.

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Foto: Matthias Heyde Justin Doyle – Chefdirige­nt und Künstleris­cher Leiter des RIAS-Kammerchor­s

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