Stalin, Herr des Terrors
Sein langjähriger Schulfreund, Jossef Iremaschwili, nahm für sich in Anspruch, Stalins »Charaktereigenschaften mehr als jeder andere« zu kennen. Für ihn wurden die entscheidenden Weichen bereits in Stalins Kindheit gestellt. Schon in der Schule sei er die Niedertracht in Person gewesen. Man konnte mit ihm nur auskommen, wenn man sich »seinem befehlshaberischen Willen fügte«. Die Natur vermochte ihn zwar »ehrlich zu begeistern«, »Liebe zu lebenden Wesen« habe er aber nie gekannt: »Für Freud und Leid seiner Mitschüler hatte er schon als Kind nur ein sarkastisches Lächeln. Ich habe ihn nie weinen gesehen. Siegen und gefürchtet zuwerden, war ihm ein Triumph.« Stalin habe nur einen Menschen geliebt und verehrt: seine Mutter, eine »fleißige, gute und gottesfürchtige Frau«; und am meisten gehasst habe er seinen Vater, der »durch sein Verhalten dem Kinde die Liebe zu Gott und den Menschen aus der Seele riß«. Der Vater habe seinen spärlichen Verdienst als Schuster vertrunken und damit die Mutter zu nächtelanger Arbeit an der Nähmaschine gezwungen. Und über Stalin selbst habe sich »tagaus, tagein der grimmige Jähzorn des Vaters entladen. Die unverdienten, furchtbaren Schläge machten den Knaben so hart und herzlos, wie der Vater selbst es war. Da alle Menschen, die über andere durch Kraft und Alter bestimmen und herrschen durften, ihmwie der Vater dünkten, lebte bald in ihm das Rachegefühl gegen alle Menschen auf, die sich über ihn stellten.« ...
Liegt in diesen Gewalterfahrungen und Kindheitstraumata tatsächlich ein Schlüssel zum Verständnis der Psyche des Diktators, seines Aufstiegs in der Russischen Sozialdemokratie, der Entstehung jenes nach ihm benannten »stalinistischen« Systems?
Aus Helmut Altrichter »Stalin. Der Herr des Terrors« (C.H. Beck, 352 S., geb., 16,95 €).