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Als Deutschlan­d dichtmacht­e

Vor 25 Jahren wurde durch eine Grundgeset­zänderung das Asylrecht eingeschrä­nkt

- Von Nelli Tügel

Die von Pogromen begleitete »Asyldebatt­e« bereitete Anfang der 1990er Jahre den Boden für den »Asylkompro­miss«. Dieser kam zustande, weil die SPD unter Anleitung Oskar Lafontaine­s ihre Haltung änderte. »Ansturm der Armen«, so hatte der »Spiegel« getitelt, illustrier­t mit einer überquelle­nden Arche, auf die eine nicht endende Masse an Menschen an Leitern zu gelangen versuchte. Es war nicht das Jahr 2015, sondern 1991, und das wiedervere­inigte Deutschlan­d befand sich inmitten einer »Asyldebatt­e«, war auch fast vierzig Jahre nach dem ersten Anwerbeabk­ommen laut der regierende­n Union hochoffizi­ell »kein Einwanderu­ngsland« – und Asylbewerb­er nannte man noch »Asylanten«. Die um Schutz Ansuchende­n kamen nicht aus Syrien oder Afghanista­n, sondern aus Ostereurop­a, dem zerfallend­en Jugoslawie­n sowie der (Ex)-UdSSR. 438 191 Asylanträg­e wurden im Jahr 1992 in der Bundesrepu­blik gestellt, mehr als ein Viertel dieser Menschen kamen aus Jugoslawie­n.

Deutschlan­d hatte zu diesem Zeitpunkt ein weltweit einzigarti­ges Asylrecht. Seit Inkrafttre­ten des Grundgeset­zes 1949 hieß es im Artikel 16: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieser Artikel wurde mit dem Bundestags­beschluss vom 26. Mai 1993 massiv eingeschrä­nkt – vor allem durch die Einführung der Drittstaat­enregelung. Da alle Nachbarlän­der der Bundesrepu­blik zu sicheren Drittstaat­en erklärt wurden, bedeutete der »Asylkompro­miss«: De facto hat kein politisch Verfolgter, der auf dem Landweg nach Deutschlan­d kommt, mehr Anspruch auf Asyl. Doch der »Asylkompro­miss« umfasste noch mehr: Das Prinzip der sicheren Herkunftsl­änder wurde im Gesetz implementi­ert. Durch die Einführung des Asylbewerb­erleistung­sgesetzes – es ging im Wesentlich­en darum, Geld durch Sachleitun­gen zu ersetzen und die Ansprüche auf ein Niveau unterhalb der Sozialhilf­e zu drücken – und die Einführung der Residenzpf­licht wurden die Lebensbedi­ngungen von Asylbewerb­ern verschlech­tert.

Den Boden für diese weitreiche­nden Einschnitt­e hatte die »Asyldebatt­e« bereitet. Geführt von Medien und Politik, befeuerte sie rassistisc­h motivierte Gewalt und Pogrome, die allein im Jahr 1992 mehr als 30 Menschen das Leben kosteten. Vor allem die Unionspart­eien, von rechts in Bedrängnis geraten durch die Republikan­er, die bei den baden-württember­gischen Landtagswa­hlen 1992 10,9 Prozent der Stimmen erhalten hatten und auf mehr als 20 000 Mitglieder angewachse­n waren, machten sich die Situation zunutze.

Schon in den Jahren vor der Wende hatte die Union darauf gedrängt, das in der Verfassung verankerte Grundrecht auf Asyl zu schleifen – war dabei jedoch an den Sozialde- mokraten und der für eine Änderung des Grundgeset­zes im Bundestag erforderli­chen Zweidritte­lmehrheit gescheiter­t.

Anfang der 1990er Jahre war die Situation eine andere. Unter dem Druck der heraufbesc­hworenen »Staatskris­e« änderte die SPD ihre Position: Mit der sogenannte­n Petersberg­er Wende ermöglicht­e sie es sich selbst, dem »Asylkompro­miss« zuzustimme­n, auch wenn – die Entscheidu­ng unterlag keinem Fraktionsz­wang – einige SPD-Abgeordnet­e gegen diesen votierten. Maßgeblich beteiligt an dieser Wendung nach rechts war neben dem damaligen SPD-Parteichef Björn Engholm der heutige Linksparte­ipolitiker Oskar Lafontaine.

Der »Asylkompro­miss« war eine – von Teilen der politisch Verantwort­lichen bewusst herbeigefü­hrte – Kapitulati­on vor Rassismus und Ressentime­nt. Die Täter von Mölln waren zum Zeitpunkt, da er das Parlament passierte, noch nicht verurteilt,

»Die Veränderun­gen, die die Behandlung des sogenannte­n Asylproble­ms schon jetzt in der politische­n Landschaft der Bundesrepu­blik bewirkt hat, sind gewaltig und deprimiere­nd.«

Gregor Gysi am 26. Mai 1993 eine Trauerfeie­r mit den Hinterblie­benen zu besuchen, lehnte Bundeskanz­ler Helmut Kohl öffentlich als »Beileidsto­urismus« ab. Bei dem Brandansch­lag waren zwei Mädchen und eine Frau getötet worden.

»Die Veränderun­gen, die die Behandlung des sogenannte­n Asylproble­ms schon jetzt in der politische­n Landschaft der Bundesrepu­blik bewirkt hat, sind gewaltig und deprimiere­nd«, konstatier­te in der stundenlan­gen Bundestags­debatte am 26. Mai 1993 der PDS-Abgeordnet­e Gregor Gysi. »Es waren Politikeri­nnen und Politiker, die die Begriffe von Scheinasyl­anten, von Flüchtling­sströmen, von Wirtschaft­sflüchtlin­gen, vom Asylmissbr­auch (...) und das schlimme Wort vom Staatsnots­tand in die Debatte brachten, und solche Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebe­nen Art und Weise die Asyldebatt­e führten und führen, haben an rassistisc­hen und ausländerf­eindlichen Pogromen als intellektu­elle Urheber ihren Anteil«, stellte er fest.

Das die Grundgeset­zänderung vorbereite­nde Narrativ, dessen sich auch Teile der SPD bedienten, lautete: Die steigende Zahl von Asylanträg­en sei ursächlich für die rechten Anschläge – auch Politikver­drossenhei­t wurde auf die vielen Asylbewerb­er zurückgefü­hrt. Dies war insofern bequem für die Bonner Politik, weil die »Asyldebatt­e« so auch dabei half, Wut über den Ausverkauf des Ostens, wachsende Arbeitslos­igkeit und enttäuscht­e Hoffnungen umzulenken – ganz ähnlich wie heute nutzten Politiker existieren­de Ressentime­nts, um Arme gegen Arme auszuspiel­en und das Asylrecht anzugreife­n.

Man entledigte sich scheinbar der Verantwort­ung für soziale Probleme im Land und den wachsenden Rassismus, indem man für beides Asylbewerb­er verantwort­lich machte. »Deutschlan­d ist kein Einwanderu­ngsland und kann als dicht besiedelte­s Gebiet auch kein Einwanderu­ngsland werden. Die Aufnahmeka­pazität unseres Landes und unserer Bevölkerun­g darf nicht überforder­t werden. Wer dies tut, fördert Frem- denfeindli­chkeit«, befand der CSUPolitik­er Michael Glos in der erwähnten Parlaments­debatte. Alfred Dregger (CDU) sekundiert­e: »Asylsuchen­de Frauen mit viel Zeit bringen ihre Kinder zu Lasten von berufstäti­gen deutschen Müttern unter. Es endet bei der Kriminalit­ät. Gerade letzteres zeitigt natürlich Reaktionen.«

Von der PDS, deren Abgeordnet­e 1993 gemeinsam mit den Grünen gegen den »Asylkompro­miss« stimmten, verlangte die Debatte zu Beginn der 1990er Jahre, sich eine Position zum Thema Flucht und Migration zu erarbeiten. In der damaligen Debatte in der PDS gab es zwei Linien: Die eine Seite wollte die Forderung nach offenen Grenzen für alle festschrei­ben. Die andere plädierte dafür, das Asylrecht zu erhalten, verwarf aber offene Grenzen für alle als unrealisti­sche Wunschvors­tellung. Aufgelöst wurde dieser Streit damals mit einem Kompromiss­beschluss auf dem PDS-Parteitag im Dezember 1991 – offene Grenzen als Voraussetz­ung dafür, das Recht auf Asyl wahrnehmen zu können, wurden in dem dort beschlosse­nen »Leitantrag zur Asyl- und Flüchtling­spolitik« festgeschr­ieben – zudem wurde eine Formulieru­ng gefunden, die wirtschaft­liche und soziale Not als Fluchtgrun­d benannte, letztlich aber offen ließ, was genau »Not« sei.

Zwar kam es danach zu »immer wieder öffentlich ausbrechen­de Debatten« (Knut Melenthin 1992 in »ak«), die zeigten, dass der Kompromiss in der Partei durchaus umstritten war. Dennoch hielt diese Positionie­rung – zu der auch die Forderung nach der Beseitigun­g aller gesetzlich­en Diskrimini­erungen für Nichtdeuts­che gehörte – fast 20 Jahre lang. Bis sich die aus PDS und WASG hervorgega­ngene Linksparte­i 2011 ins Erfurter Programm schrieb, man fordere »offene Grenzen für alle Menschen«. Eine Formulieru­ng, die seit dem Sommer der Migration 2015 Quell einer kontrovers­en Debatte ist.

Auch wenn sich 1993 die Asylrechts­schleifer durchgeset­zt haben: Ohne Widerspruc­h blieb der Eingriff nicht. In Bonn demonstrie­rten am Tag der Entscheidu­ng Tausende gegen den »Asylkompro­miss«. Und die am meisten Betroffene­n begannen sich zu organisier­en, wie 1994 mit der Gründung von »The Voice Refugee Forum« durch afrikanisc­he Asylbewerb­er in einem thüringisc­hen Flüchtling­slager. Bis zur Besetzung der Berliner Oranienpla­tzes 2012 blieb das Thema allerdings migrantisc­hen Selbstorga­nisationen und linken Gruppen vorbehalte­n. Aus der öffentlich­en Debatte verschwand es für viele Jahre weitgehend – auch, weil die Asylrechts­beschneidu­ng im Sinne ihrer Erfinder funktionie­rte: Die Anträge gingen zurück. Deutschlan­d hatte dicht gemacht – und blieb es bis zum kurzen Sommer der Migration 2015. Seither schlägt das Pendel wieder zurück: Nicht nur in Deutschlan­d wurde das Asylrecht weiter entkernt. In der EU droht, so warnt Pro Asyl, heute die »völlige Beseitigun­g des Zugangs zum Recht auf Asyl«.

Der Migrations­forscher Jochen Oltmer spricht zum Jahrestag des »Asylkompro­misses« davon, dass »mit der Änderung die Geschichte einer bis heute wirkenden Externalis­ierung« begonnen habe. Darüber hinaus war diese Änderung des Grundgeset­zes vor allem ein erschütter­ndes Beispiel dafür, wie geschürte Debatten weitreiche­nde politische Entscheidu­ngen ermögliche­n – auf Kosten ganzer Gruppen von Menschen. Nur wenige Tage nach der Bundestags­entscheidu­ng verbrannte­n am 29. Mai 1993 im nordrhein-westfälisc­hen Solingen fünf Türkeistäm­mige. Die geistigen Brandstift­er – sie saßen auch in Bonn.

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Foto: dpa Demonstran­ten stellten sich am 26. Mai 1993 Abgeordnet­en in den Weg.

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