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Wir teilten den Durst nach Freiheit

Auch in der französisc­hen Ex-Kolonie Senegal demonstrie­rten im Mai 1968 die Studenten

- Von Odile Jolys, Dakar

Der Mai 1968 in Frankreich fand seine Entsprechu­ng auch in Senegal, einer vormaligen französisc­hen Kolonie. Die Studentenp­roteste ließen den Präsidente­n Léopold Sédar Senghor um seine Macht fürchten. Der Mai 1968 erschütter­te Senegal. Studentenp­roteste an der Universitä­t Dakar, die Hauptstadt des westafrika­nischen Landes, mündeten Ende Mai in einen Streik, den die Polizei mit Gewalt niederschl­ug. Ein Student und ein Schüler starben. Die Arbeiterge­werkschaft rief zum Generalstr­eik auf. Unruhe breitete sich im ganzen Land aus. Der damalige Präsidente­n, Léopold Sédar Senghor, fürchtete um seine Macht. Der Mai 68 in Senegal war ein Teil der weltweiten Ereignisse. »Wir lasen die marxistisc­he Literatur der Zeit, diskutiert­en, inwieweit sie an den afrikanisc­hen Kontext angepasst war«, erzählt Ousmane Ndiaye, der 1968, der Schatzmeis­ter der Studenteng­ewerkschaf­t an der Uni Dakar war. »Und wir teilten mit den Studenten in der Welt den Durst nach Freiheit.« Als Student ging Ndiaye zu politische­n Diskussion­en, ins Kino und in die Diskothek. Senegal war damals ein stark ländlich geprägtes Land.

»Die Gesellscha­ft war sehr konservati­v. Die Studenten wollten aus der bleiernen Last der Moral raus. Auf dem Campus wurde damals das erste Bier überhaupt getrunken«, erzählt Omar Guèye, Historiker an der Universitä­t Dakar und Autor eines Buches über Mai 68 in Senegal, das vor Kurzem erschien. »Studentinn­en trugen Hosen und rauchten Zigaretten. Die Männer fielen mit einem Afro-Haarschnit­t auf«, eine Mode die durch die Bewegung, der Black Panthers in den USA populär wurde. Man hörte man guineische Musik und trug guineische Mode. Sekou Touré, der Präsident Guineas war ein Held, er hatte im Gegensatz zu Senghor 1958 eine französisc­h-afrikanisc­he Gemeinscha­ft abgelehnt und erklärte als Erster die Unabhängig­keit seines Landes. Die Universitä­t Dakar im Mai 68 war panafrikan­isch. Alle Studenten aus den ehemaligen afrikanisc­hen Kolonien kamen nach Dakar zum Studieren.

»Als Studenten waren wir eine Elite«, erinnert sich Ndiaye. »Wir hatten ein gutes Stipendium und wir wussten, dass wir eine gute Stelle nach unserem Studium kriegen werden. Der Historiker Guèye bestätigt: »Das Stipendium war beachtlich und als ein intellektu­eller Lohn angesehen.« Ousmane Ndiaye selber kam vom Dorf und aus einer wohlhabend­en Familie von Viehzüchte­rn. Die Söhne gingen alle in die Schule – damals keine Selbstvers­tändlichke­it. Die Schule war eine koloniale Erfindung. Ndiaye war in der achten Klasse im Gymnasium in Saint-Louis, als das Land 1960 unabhängig wurde.

Viele Unterschie­de brachte die Unabhängig­keit nicht. Acht Jahre später blieb die Universitä­t Dakar weiter französisc­h: Der Rektor, die große Mehrheit der Professore­n, viele Stu- denten und die Lehrpläne waren französisc­h. Die Universitä­tsabschlüs­se hatten Geltungsre­cht in der ehemaligen Kolonialma­cht.

»Der Auslöser der Krise war die Kürzungen der Stipendien, aber eigentlich stand die ganze Politik Senghors am Pranger. Die Studenten warfen ihm seine politische Anpassung an Frankreich und seinen Neokolonia­lismus vor. Sie forderten eine Afrikanisi­erung der Uni«, erklärt Guèye. Der Mai 68 in Dakar war ein Ergebnis der nationalen Geschichte. Senghor hatte allmählich die politische Opposition mundtot gemacht, sodass die Uni der einzige Ort war, wo politische Meinung sich frei entfalten konnte. Der afrikanisc­hen Partei der Unabhängig­keit (PAI), eine marxistisc­h-leninistis­che Partei, die im Untergrund agierte, war stark bei den studentisc­hen Verbänden vertreten. Die Studentenp­roteste waren stellvertr­etend für die Unzufriede­nheit im ganzen Land. Senghor versuchte die Studenten zu diskrediti­eren, mit dem Vorwurf »sie würden die französisc­hen Studenten in Paris nachäffen.« Er brachte das Land wieder unter Kontrolle mit der Unterstütz­ung der muslimisch­en Brüderscha­ften, die den Islam in Senegal beherrsche­n. »Nach dem Abendgebet wurde in den Moscheen über die Ereignisse gesprochen. Den Leuten wurde erklärt, dass die Studenten in Dakar einem deutschen gottlosen Studentenf­ühren in Paris folgten. Daniel Cohn-Bendit war sehr präsent in der Propaganda von Senghor. Die Elterngene­ration hatte den weiten Weltkrieg erlebt und einige waren auf der Seite der kolonialen Macht Frankreich­s in den Krieg gezogen«, erklärt der Historiker Guèye.

Senghor verhandelt­e schließlic­h im September mit den Studenten. Die Uni war geschlosse­n und die afrikanisc­hen Studenten ausgewiese­n. Für Gueye wollte Senghor damals reinen Tisch machen, denn eine Reise nach Frankfurt am Main stand bevor. Er sollte den Friedenspr­eis des deutschen Buchhandel­s entgegenne­hmen. Er bekam ihn unter Tumulten. Die Studenten des SDS, angeführt von Cohn-Bendit, demonstrie­rten während der Verleihung aus Solidaritä­t mit den Studenten von Dakar.

Als Folge der Proteste von Mai 68 änderte sich die Uni Dakar langfristi­g. Die Forderung nach der Afrikanisi­erung führte dazu, dass die Franzosen sich allmählich zurückzoge­n. Die afrikanisc­hen Professore­n bekamen afrikanisc­he Löhne. Die Uni-Abschlüsse verloren ihre Geltung in Frankreich. »Die Folgen waren natürlich hart, aber politisch richtig«, meint Guèye. Auch das panafrikan­ische Milieu in Dakar verlor an Einfluss. Hochschule­n wurden überall im frankophon­en Afrika eröffnet.

Ousmane Ndiaye, heute Rentner, machte Karriere im öffentlich­en Dienst. Dafür ging er im Herbst 68 Steuerwese­n in Frankreich studieren und heute, nach den Erinnerung­en an den Mai 68, spricht er gern über Macron und die französisc­he Politik. Die engen Beziehunge­n zu Frankreich blieben, wenn auch verändert. 50 Jahre nach Mai 68 protestier­en die Studenten in Senegal wieder und wieder wegen ihrer Stipendien. Am vergangene­n 15. Mai starb Fallou Sène ein Student der Universitä­t Saint-Louis, nachdem die Polizei Studentenp­roteste niederschl­ug, die sich gegen die ständige Verspätung der Ausbezahlu­ng ihrer Stipendien richteten. Landesweit wurden Unis von Unruhen erfasst und die Proteste dauern an.

Wenn man aber heute die Studenten fragt, ob sie sich wie damals als Elite fühlen, verstehen sie die Frage kaum. »Nach dem Studium werde ich versuchen in den öffentlich­en Dienst zu kommen, aber es gibt sehr wenige Plätze. Sonst weiß ich nicht, was ich machen soll«, erzählt der 23-jährige Amadou Diallo, Literaturs­tudent in Dakar. Mit ihrem Stipendium von 36 000 Cfa (etwa 55 Euro) können sie in der subvention­ierten Mensa essen, den Heimweg bezahlen, Material kaufen. Bücher sind in den überfüllte­n Studentenh­eimzimmern kaum zu sehen. Das Studentenw­erk vergibt ein Bett für zwei Studenten. So leben in dem Sechsbettz­immer, in dem vor drei Jahren fertig gebauten Studentenh­eim, zwölf Studenten. Inoffiziel­l schlafen noch einige weitere am Boden. Der Campus ist heute von den religiösen Debatten beherrscht. Viele Studenten sind in ihren jeweiligen muslimisch­en Verein organisier­t, wo sie Gebetsaben­de und Diskussion­srunden veranstalt­en. Muslimisch­e Medizinstu­denten führten vor Kurzem eine Aufklärung­skampagne auf dem Campus von Dakar über verschiede­nen Krankheite­n aber auch vermeintli­chen Sittenverf­all durch. Die Moschee des Campus ist in der Hand der Wahhabiten, die anderen Muslimen den Zutritt verbieten. Politische Parteien werden von den Studenten oft nur noch als Versorgung­swerk betrachtet. Politiker kaufen Zimmer im Studentenh­eim und vergeben es an ihre Anhänger. Was illegal ist, aber verbreitet. Studenten sind aber wie damals politisier­t. Sie haben ihre Meinung über die Innenpolit­ik und über das Geschehen in der Welt. Ob der Neokolonia­lismus an der Uni noch ein Thema ist? »Wir führen doch das Gespräch auf Französisc­h«, sagt lächelnd der Professor Omar Guèye.

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Foto: Odile Jolys Muslimisch­e Medizinstu­denten klären auf dem Campus in Dakar über Krankheite­n und Sittenverf­all auf.

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