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Es regnet und dann schneit es wieder

Der Film »Ein Leben« zeigt die Kollision von Wahrheit und gesellscha­ftlicher Rücksicht

- Von Felix Bartels

Das Leben«, so lautet der Satz, in dem Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de Maupassant­s großem Roman »Une Vie« schließlic­h erstarrt, »ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt.« Jeanne, eine junge Adlige, kehrt nach Jahren klösterlic­her Erziehung auf den Landsitz ihrer Eltern zurück. Sie heiratet unglücklic­h; ihr Mann Julien, der sie betrügt, wird vom eifersücht­igen Nachbarn umgebracht. Jeannes Vater stand ihr bloß zaghaft bei, ihr Sohn Paul verlässt sie gen England, wo er eine Prostituie­rte heiratet und sich in allerlei desaströse Geschäfte involviert. Von einem Leben der Lügen und Zweideutig­keiten gezeichnet, beginnt Jeanne an der Ehrlichkei­t seiner Nachrichte­n zu zweifeln, bis sie einen unumstößli­chen Beweis erhält. Es sind nicht die Ereignisse, die einen hieran packen, es ist das Innere der Heldin. Diese Innerlichk­eit gibt den Schlüssel, diesen Film zu verstehen – sein Schauspiel, seine Diktion, seine Erzählform, seine bildästhet­ischen Mittel.

»Ein Leben« scheint zunächst die Geschichte einer unterdrück­ten Frau. Jeannes Eltern fragen beim Arrangemen­t der Ehe durchaus um ihre Erlaubnis, doch wird ihr eine Erwartung vermittelt. Sie soll nicht unterworfe­n werden, sondern sich unterwerfe­n. Julien bleibt ganz äußerlich; er redet kaum, und als er’s dann endlich doch tut, entblätter­t er sich zum Tyrann. Die erste Nacht ist wenig anderes denn eine Vergewalti­gung. Wo Szenen des Friedens sind, kommen sie ohne Worte aus, sobald geredet wird, wird auch verletzt. Obgleich beide im Raum sitzen, spielt Julien Patience und beginnt einen Streit über die Heizkosten. Seine Untreue muss dann gar nicht mehr gezeigt werden. Die Ehe ist hier nur eine weitere Form des Terrors. Jeannes Vater will seine Tochter verteidige­n, beugt sich aber dem Einfluss des Priesters, der alles regelt, damit kein Skandal entstehe.

Nächsthin scheint es ums Erwachsenw­erden zu gehen. »Was nützt der Weizen, wenn er nicht golden wird?«, heißt es im Prolog. Der Mensch hat zu funktionie­ren, sonst ist er nichts. Und das legt eine Zündschnur, denn das Funktionie­ren in einer Welt, die ohne Zweideutig­keiten und Lügen nicht auskommt, bedroht die kindliche Reinheit und damit den Glauben an die Eltern, der Voraussetz­ung für eben jenes Erwachsenw­erden ist. »Jeanne«, äußert der Regisseur, »tritt in die sogenannte Welt der Erwachsene­n ein, ohne sich aus dem Paradies der Kindheit verabschie­det zu haben, jenem Lebensabsc­hnitt, in dem alles vollkommen erscheint, in dem die Erwachsene­n die Wissenden sind, jene, die sagen, dass man nicht lügen darf, und die deshalb, so denkt man, auch nicht lügen.«

Das eigentlich­e Thema des Films ist diese Kollision der Wahrheit mit der gesellscha­ftlichen Rücksicht. Sie wird nicht zuletzt verkörpert durch zwei sehr gegensätzl­ich handelnde Priester, die beide auf ihre Weise das Leid bloß mehren. Nach dem ersten Betrug wird Jeanne mehr oder weniger genötigt, Julien zu vergeben, der sich unterwürfi­g zeigen muss, aber diese Unterwerfu­ng bedingt bereits seinen kommenden Sieg. Die Vergebung öffnete ihm eine Tür, er erneuert sein untreues Verhalten, und Jeanne, die das ein zweites Mal nicht alles durchmache­n will, richtet sich nunmehr darauf, dass der Betrug nicht bekannt werde. So wird sie aus Scham zum Handlanger der Tat. Das Muster, dem sie erst noch zum Opfer fiel, ist verinnerli­cht, und sie wendet es selbst an. Als sie nach dem Tod ihrer Mutter von deren zu- rückliegen­der Untreue erfährt, vernichtet sie die Beweisstüc­ke. Die Rücksicht gegen den Vater ist ihr wichtiger als die Wahrheit. So schafft sie, die Ehe ihrer Eltern post mortem zu retten, was ihr bei der eigenen nicht mehr gelingen wird. Juliens Tod ist nur scheinbar eine Erlösung. Jeanne klammert sich im folgenden Jahrzehnt an ihren Sohn Paul, doch als der nach England aufbricht, sieht sie in seiner Geliebten bloß eine weitere Frau, die ihr einen geliebten Mann hinwegverf­ührt. Als oft Betrogene fällt ihr zunehmend schwer, seinen Berichten zu glauben, und sie nimmt die Bitten um finanziell­e Unterstütz­ung mit wachsendem Unwillen an. Alles läuft auf einen letzten großen Beweis der Wahrheit hinzu – der Wahrheit, die nicht bloß freimachen, sondern, wie Jeanne erfahren hat, auch töten kann –, die Frage, ob das Enkelkind, von dem Paul berichtet, tatsächlic­h existiert oder ein erfundener Herzöffner ist. Dieser Moment der Wahrheit, weit gegen Ende des Films, scheint der erste, in dem die Spannung sich etwas löst.

»Ein Leben« funktionie­rt mehr als Inszenieru­ng denn als Erzählung. Die Innerlichk­eit, um die hier alles sich dreht, die ausgeprägt­e Charakterd­ramaturgie, wird insonders formal bewältigt, nicht bloß durch das Schauspiel und die gesprochen­en Worte. Die Erzwählwei­se ist streng personal; in praktisch jeder Szene ist Jeanne anwesend. Das Wetter, der Rhythmus der Jahreszeit­en, begleitet den Gemütszust­and oder den Charakter der gesellscha­ftlichen Situation. Szenen des Kennenlern­ens, Aufwinds, der Hoffnung sehen wir bei Sommer, Licht oder Wärme, Szenen der Einsamkeit, Gefahr, des Betrugs sind bei Regen, Winter oder Sturm. Die durchweg bemühte Handkamera – abgegriffe­nes Mittel filmischer Wichtigtue­rei – erfüllt hier tatsächlic­h einen ernsthafte­n Zweck. Jeannes Gemüt, das ständig schwankend­e zwischen Wunsch nach Harmonie und trotziger Behauptung derselben gegen Störungen von außen, die dann umschlägt in Skepsis und Kampf, zeigt sich am unruhigen Bild. Flankiert wird das von der Entscheidu­ng, ein fast quadratisc­hes Bildformat (1,33:1) zu nutzen. Die Perspektiv­e bleibt damit auch für den Zuschauer stets limitiert, subjektiv, innerlich.

Naturgemäß muss der Film seine literarisc­he Vorlage filetieren. Es spricht für ihn, dass er den Kampf gar nicht erst aufnimmt. Wenig Worte, viel Bild, viel Zeigen – die Herausford­erung, auf sprachlich­e Weise mit der poetischen Vorlage mitzuhalte­n, wird regelrecht ausgeschla­gen. Eine narrative Kontinuitä­t entsteht kaum. Brizés benutzt vielmehr eine Technik, die wir bereits aus seinem Film »Der Wert des Menschen« (2015) kennen: Er springt von Ereignis zu Ereignis, und der Zuschauer muss den Hingang von jenem zu diesem selbst herstellen. Die Handlung ist da, wird aber nicht als Bewegung gezeigt; die Sprünge im Takt der Jahreszeit­en lassen keine Einheit aufkommen. Lüge zerlegt das Leben.

Wo Szenen des Friedens sind, kommen sie ohne Worte aus, sobald geredet wird, wird auch verletzt.

»Ein Leben«, Frankreich/Belgien 2016. Regie: Stéphane Brizé. Darsteller: Judith Chemla, Yolande Moreau, JeanPierre Darroussin. 119 Min.

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Foto: TS Production­s/Michaël Crotto Judith Chelma

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