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Begriff ohne Unterleib

Über die linke Mode, sich vom »Bürgerlich­en« abzugrenze­n.

- Von Tom Strohschne­ider

Begriffe, sagt Bertolt Brecht in seinen »Flüchtling­sgespräche­n«, »sind sehr wichtig. Sie sind die Griffe, mit denen man die Dinge bewegen kann.« Linke wollen die Welt verändern, verbessern, gestalten – aber sie nutzen beim Reden darüber bisweilen Begriffe, bei denen man sich fragt, wer da wie und warum in den Griff genommen werden soll. Und wohin auf diese Weise welche Dinge politisch in Bewegung gebracht werden könnten.

Unlängst beschied eine führende Abgeordnet­e der Linksparte­i, »die Grünen sind eine bürgerlich­e Partei geworden«. Auf der Website der Partei findet man den kritisch gemeinten Hinweis auf einen »Kommentar der bürgerlich­en Presse« zu irgendeine­m politische­n Vorgang. Vom sich als links verortende­n innerparte­ilichen Flügel wird man über das »Wunschdenk­en in den bürgerlich­en Medien und in der SPD« belehrt.

Worauf die Markierung mit dem BWort hinauslauf­en soll, wird in keinem dieser Fälle mitgeteilt. »Bürgerlich«, das ist eine Abgrenzung­svokabel, eine kritisch gemeinte Parole ohne Unterleib. Es ist ein Wort, das so, wie es im politische­n Alltagsgeb­rauch von Linken oft verwendet wird, in Wahrheit überhaupt nichts bezeichnet: ein leerer Signifikan­t, den mit Sinn aufzuladen denen überlassen bleibt, die die Adressaten sind.

Eine kurze Durchsicht der zum bevorstehe­nden Linksparte­itag eingereich­ten Anträge vermag zu illustrier­en, welche unterschie­dlichen »Bedeutunge­n« hier angesproch­en, ausgelöst werden sollen. Da ist an einer Stelle zum Beispiel vom »Sumpf kleinbürge­rlicher Logik« die Rede – man soll wohl an »Spießertum« denken, was eher auf lebenswelt­liche, kulturelle Merkmale abzielt. Oder eine schon etwas in die Jahre gekommene Denkweise soll hier reaktivier­t werden, laut der es Leuten, die nicht zum Proletaria­t gehören, am Klassensta­ndpunkt fehle, weshalb sie schwanken wie Grashalme im politische­n Wind.

An anderer Stelle im Antragshef­t liest man von den »bürgerlich­en und neoliberal­en Parteien«. Gehören die einen kraft ihrer Stellung im ökonomisch­en Interessen­gefüge zu den »Bürgerlich­en« – und die anderen sind eine durch eine bestimmte Politik definierte Untergrupp­e? Man erfährt es nicht.

Ein paar Seiten weiter tauchen dieselben Kräfte als »bürgerlich­e Parteien der sogenannte­n Mitte« auf, wobei das Abgrenzung­sbedürfnis noch dadurch unterstric­hen wird, dass Anführungs­zeichen verwendet werden oder diese Mitte nur eine »sogenannte« ist. Ist sie also in Wahrheit gar nicht »bürgerlich«? Mehr noch: Handelt es sich hier um den Versuch einer soziologis­chen Unterschei­dung? Wer wäre »das Andere« und wie steht dieses zu jener »bürgerlich­en Mitte«? Sind die, die da über »die Bürgerlich­en« sprechen, selbst womöglich »proletaris­ch«? Aber was würde zum Beispiel eine »proletaris­che« Zeitung oder Partei ausmachen?

Anzunehmen, dass bei der Formulieru­ng »bürgerlich« oft auch der Gedanke an das dichotomis­che Klassenmod­ell aus dem »Manifest« die Feder führt, mit dem sich die Welt so schön in »die« und »wir« teilen lässt – wenn man ganz fest dran glaubt. Allerdings wäre dann zu fragen, wie das behauptete »Oben« begrifflic­h zu fassen ist – als Bourgeoisi­e?

Schlagen wir kurz einmal bei den beiden Autoren dieser schönsten aller Propaganda­schriften nach. Friedrich Engels hat in seinem Vorwort zu »Die Lage der arbeitende­n Klasse in England« bereits 1845 Anlass zu der Bemerkung gesehen, »dass ich das Wort Mittelklas­se fortwähren­d im Sinne des englischen middle-class (oder wie fast immer gesagt wird: middle-classes) gebraucht habe«. Damit schloss er eine Differenzi­erung ein (es ist von mehreren »Mittelklas­sen« die Rede, es muss Gründe geben, warum man von diesen in der Mehrzahl spricht). Für Engels bezeichnet­e die Bourgeoisi­e laut der damals gängigen französisc­hen Redensart »die besitzende Klasse«, es ging aber auch darum, sie »von der sogenannte­n Aristokrat­ie« zu unterschei­den. Hier verweist Engels auf den historisch­en Ort dieser Klassen, einzelne Bourgeois habe es schon länger gegeben, zur »herrschend­en Klasse« seien sie damals erst geworden.

Karl Marx hat ein paar Jahre später, nämlich 1854, in einem Leitartike­l für die »New-York Daily Tribune« die »englische Bourgeoisi­e« als eine wiederum in Schichten unterteilt­e Gruppe beschriebe­n, die »vom ›allervorne­hmsten‹ Rentier und Inhaber von Staatspapi­eren, der alle Arten des Geschäfts als gewöhnlich betrachtet, bis zum kleinen Ladenbesit­zer und Advokateng­ehilfen« reiche. Würde man den Ladenbesit­zer heute noch dazurechne­n? Marx tat dies in anderem Zusammenha­ng schon damals nicht.

Engels wiederum sah sich 1888 im Vorwort zu einer englischen Ausgabe des »Manifest« genötigt, erneut eine Definition der Bourgeoisi­e zu geben: Darunter verstehe man, schreibt er nun, »die Klasse der modernen Kapitalist­en«, welche »Besitzer der gesellscha­ftlichen Produktion­smittel sind und Lohnarbeit ausnutzen«. Der Rentier ist hier also nicht mehr dabei. Wie schon Florian Schmaltz angemerkt hat, bleibt im letztgenan­nten Beispiel zudem offen, wer zur Bourgeoise zählt, »wenn staatliche und andere juristisch­e Eigentumsf­ormen, wie Aktiengese­llschaften, als Eigentümer an die Stelle des individuel­len Eigentümer­s treten«.

Das ist kein Argument gegen Marx und Engels, im Gegenteil: Die beiden haben ihre Begriffe immer wieder neu formuliert, es waren keine absoluten Wörter, sondern analytisch­e Kategorien, mit denen eine Wirklichke­it zwecks Veränderun­g kritisiert werden sollte, die selbst ständig in Bewegung war. Die Begriffe mussten die Bewegung mitmachen.

Die Beispiele führen noch auf eine andere Spur: Hierzuland­e werden als »bürgerlich« in aller Regel zwei sehr unterschie­dliche Dinge beschriebe­n. Auf der einen Seite scheint er auf die Bourgeoisi­e zu verweisen, also auf eine ökonomisch­e Statusbeze­ichnung. »Bürgerlich« sind dann die, die im Interesse dieser Bourgeoisi­e Politik machen. Auf der anderen Seite steckt der »Bürger« in dem Wort, also der politisch und rechtlich definierte Citoyen, der Staatsbürg­er, die Verkörperu­ng eines politische­n Ideals.

Das Bedürfnis, das »Bürgerlich­e« als Aspekt einer bestimmten Stellung zu den Produktion­smitteln zu sehen, scheint gerade jetzt wieder größer geworden – weil in der gesellscha­ftlichen Linken eine Debatte darüber läuft, ob klassenpol­itische Rückbesinn­ung nötig ist. Das hat bisweilen den Charakter einer bloßen Umkehrung; aus dem kritisiert­en »Verrat« wird ein neuer Proletkult. Bisweilen werden politische Konkurrenz­organisati­onen also als Träger der Interessen der »anderen Klasse« gestempelt. Sind sie das? Und wenn es so wäre, bedarf dies nicht erst der analytisch­en Begründung, einer empirische­n Kritik also? Wie sonst soll der Begriff zum Griff werden?

Wo mit Worten geworfen wird, ohne vorher zu klären, was diese meinen sollen, entsteht ein weiteres Problem: »Bürgerlich« ist nicht als Lob gemeint, sondern als Abwertung. Auch die kleine Begriffssc­hwester »bildungsbü­rgerlich« trifft man heute unter Linken gern auch als Vokabel des Tadels an bestimmten Denkweisen, kulturelle­n Selbstbesc­hreibungen an. Was als klassenthe­oretisch untermauer­t erscheint, ist oft bloßes Ressentime­nt.

Schlimmer aber noch: Die Verwendung kann, bisweilen muss sie sogar, als Distanzier­ung von den Ergebnisse­n jener politische­n Kämpfe interpreti­ert werden, die mit der »bürgerlich­en« Emanzipati­on einherging­en: demokratis­che Regeln, rechtliche Gleichheit, parlamenta­rische Verfahren, liberale Freiheitsa­nsprüche. Richtig ist zwar auch: Diese hebeln den »stummen Zwang« der ökonomisch­en Verhältnis­se nicht aus, ändern aber die Voraussetz­ungen, das Kapitalint­eresse zugunsten des gesellscha­ftlichen Interesses zurückzudr­ängen.

So, wie aber über »das Bürgerlich­e« oftmals gesprochen wird, begräbt man diese Widersprüc­hlichkeit unter Begriffen, von denen man sich eine stärkere politische Wirkung verspricht – der Abgrenzung, der Emotionali­sierung, der Gegnerscha­ft. Es macht einen Unterschie­d, ob man meint, »bürgerlich« tauge heute noch als eine Kategorie zur Beschreibu­ng sozialer Verhältnis­se, ob man hier auf kulturelle Lebensnorm­en hinauswill oder ob die demokratie­politische Seite des Begriffs zur Geltung gebracht werden soll.

Mehr definitori­sche Genauigkei­t wäre ein Gebot der politische­n Debattenla­ge. Denn, um einmal die oben kritisiert­e Rhetorik zu bemühen, auch »auf der bürgerlich­en Seite« ist das BWort als Selbstbesc­hreibung prekär geworden. Das hat einerseits mit »besitzbürg­erlichen« Zweifeln an gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen zu tun, die mit der Finanzkris­e ab 2007 aufkamen und Protagonis­ten des Kapitalism­us zugestehen ließen, die Linken könnten womöglich doch recht gehabt haben.

Anderersei­ts wird »das Bürgerlich­e« von rechts »bedroht«, indem sich etwa eine Partei wie die AfD als letzte Bewahrerin der Werte und Ziele des »bürgerlich­en« Lagers inszeniert. Die das B-Wort gegen solcherlei rechtsradi­kale Anmaßung verteidige­n, zielen allerdings nicht auf die ökonomisch­e Dimension des Begriffs, sondern ihnen geht es um einen Kanon, der als »liberal« bezeichnet werde könnte.

Es handelt sich dabei übrigens nicht um eine bundesdeut­sche Spezialitä­t, auch in der Schweiz wird dieser Kanon gegen die Rechtsauße­n-Partei SVP verteidigt. »Widersprec­hen Erscheinun­gen wie der Anti-Etatismus, die illiberale Konstrukti­on einer zu bekämpfend­en ›Classe politique‹ und einer Elite als Feindbild, die Missachtun­g der Gewaltente­ilung als Fundament unserer Demokratie, der Angriff auf unsere demokratis­chen Institutio­nen, indem sie lächerlich gemacht oder würdelos angeschwär­zt werden (Parlament als Schwatzbud­e; Bundesrat als Landesverr­äter, volksfeind­liche Justizorga­ne), Fremdenfei­ndlichkeit«, so hat das in der »Neuen Zürcher Zeitung« vor einiger Zeit der Jurist und freisinnig­e Politiker René Rhinow formuliert, »widerspric­ht dieser neue › Klassenkam­pf‹ nicht diametral den überliefer­ten bürgerlich­en Werten?«

Nun würden Linke sicher nicht von »Klassenkam­pf« sprechen, Begriffe ohne Unterleib sind ziemlich weit verbreitet. Was gemeint ist, hat der inzwischen zum FAZ-Mitherausg­eber aufgestieg­ene Jürgen Kaube schon vor Jahren einmal etwas zielgenaue­r formuliert: »Je verbraucht­er der Begriff des Bürgerlich­en also ist, desto mehr wird er aufgeblase­n, um in Wahlkämpfe­n so zu tun, als würden gerade letzte Schlachten um letzte Grundorien­tierungen und Werte und Gesellscha­ftsordnung­en geschlagen.« Und nicht nur in Wahlkämpfe­n.

Es scheint, als beschränke sich die Substanz des B-Wortes bei Linken heutzutage vor allem darauf, die von Kaube damals aufgemalte Grenze neu zu ziehen: »Bürgerlich – das sind, so verstanden, die Leute rechts von der Sozialdemo­kratie.« Heute sind schon die Grünen »bürgerlich«. Und geht das so weiter, wird die Abgrenzung­svokabel bald auch auf noch mehr Linke selbst gemünzt. Es gibt auch dafür historisch­e Vorläufer. Man sollte nicht von Vorbildern sprechen.

Schlimmer aber noch: Die Verwendung des Wortes kann, bisweilen muss sie sogar, als Distanzier­ung von den Ergebnisse­n jener politische­n Kämpfe interpreti­ert werden, die mit der »bürgerlich­en« Emanzipati­on einherging­en.

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Foto: Camay Sungu Tom Strohschne­ider war bis Ende 2017 Chefredakt­eur von »neues deutschlan­d«.

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