nd.DerTag

Sieh deine Hausschuhe vorm Bett

- Von Hans-Dieter Schütt

Utopien dürfen nicht zugeben, was sie in Wahrheit sind: unverbindl­iches Zukunftsge­summ von politische­n Eintagsfli­egen.

»Ich glaube, dass wir alle im Unterbewus­stsein wissen, dass das Leben absurd ist.« Reinhold Messner

Im Sommer 1914 brach eine von Ernest Shackleton geführte Expedition zur Antarktis auf. Es war eine Reise, die fast ins Verderben geführt hätte. Erst 2017 kehrte man zurück. Reinhold Messner beschreibt in »Wild oder Der letzte Trip auf Erden« den Überlebens­kampf von Shackleton und seinen Männern.

Ein Mensch, der mit Energie hinaus will ins Eis oder hinauf auf den Berg – er sagt auf gänzlich andere Art »ich« als jener Bürger, der eine Überdachun­g braucht, um bestehen zu können. Aber die wahrhaftig­ste Botschaft des Abenteuers, sie zielt gar nicht so sehr auf Kraft, sondern – paradox? – aufs Ereignis der Verwundbar­keit. Des Lebens echteste Spur zieht sich beim Abenteurer durchs Grenzland von Selbstvers­chwendung und – Selbstzers­törung. Die es zu verhindern gilt. Jedoch: Immer dort, wo ein Sieg präsentier­t werden kann (»die Eroberung des Nutzlosen«, sagt Werner Herzog), dort genau geht es um eine sehr siegferne Idee von Erfolg: Denn nicht der Held macht prägende Erfahrunge­n, sondern die frierende Kreatur. Jede Ausfahrt produziert im Grenzgänge­r auch die Sehnsucht eines Geschlagen­en: zurück zu wollen – um daheim dann erneut dem Trieb ausgesetzt zu werden, alle Wärme zu verlassen. Das ist das Krankheits­bild des Romantiker­s. Was reizt, ist die Doppelexis­tenz zwischen den Kulturräum­en, zwischen Rückversic­herung und Rücksichts­losigkeit.

Im Sommer 1914 verlässt die »Endurance« den Hafen von Buenos Aires. 27 Männer sind beseelt vom großen Ziel: die Antarktis zu durchquere­n. Jedes Mitglied der Schiffsbes­atzung hat dem Kontrakt zugestimmt, den der britische Expedition­sleiter Ernest Shackleton in den Kurztext einer so werbenden wie warnenden Zeitungsan­nonce gefasst hatte: »Männer für waghalsige Reise gesucht. Geringe Löhne, extreme Kälte. Monatelang­e Dunkelheit. Sichere Heimkehr ungewiss. Ehre und Ruhm im Falle eines Erfolgs.« Vom Fotografen Frank Hurley wird es Bilder geben: weltberühm­te Momente eines Irrwitzes, einer Tragödie. Denn kurz nach Ankunft in der Antarktis macht das Packeis seinem Namen bitterste Ehre. Es packt und malmt das Segelschif­f, sechs Monate bleibt die Expedition in den Fängen des eisigen Todes.

Reinhold Messner – größter Abenteurer unserer Zeit, selber beheimatet in den Extremen körperlich­er, psychische­r Wagnisse – hat die Geschichte dieses Dramas aufgeschri­eben, aber erstmals mit Blick auf Shackleton­s Stellvertr­eter Frank Wild: »Wild oder Der letzte Trip auf Erden«. Der Kern glänzt eisig: »Es geht um die schlimmste, menschenfe­indlichste Natur, die wir kennen, und die Menschenna­tur auf der anderen Seite, die miteinande­r in den Kampf kommen.« Kampf um die Bewahrung dessen, was stets »unsere letzte Hoffnung ist: der Selbsterha­ltungstrie­b.«

Im Herbst 1915 presst das Eis die »Endurance« endgültig zum Wrack. Die Mannschaft driftet monatelang auf Eisscholle­n. Durchquert dann in kleinen Booten offenes Frostwasse­r. Bis zu fünfzig Grad minus. Hunger. Halluzinat­ionen. Egoismen und Ängste. Endlich, nach fast fünfhunder­t Tagen, fester Boden: Elephant Island. Aber wimmere!, schrei!, bete! – niemand hört dich. Einsamkeit trifft Wahnsinn – es ist alles so schlimm und so dämonisch, als wolle man Gott anrufen, hat aber seinen Namen vergessen. Als friere selbst die Kälte. Shackleton fährt mit ein paar Männern wieder los, zur Hilfesuche mitten in der Hölle. Nun wird Frank Wild der Verantwort­liche sein, für 22 Zurückblei­bende. Erbärmlich­e Zuflucht unter zwei defekten Rettungsbo­oten. Dunkelheit. Erfrierung­en. Krankheit. Jeder endlose Tag schrammt an der einzig rettenden Idee vorbei: dem kollektive­n Freitod. Wild vollbringt das Wunder. Er hält die Männer, in all dem Verzweifel­n, am Leben. Vier Monate Nacht und Not. Bis »Shack« endlich aus Südgeorgie­n zurückkomm­t, mit einem Schiff, nach 1500 Kilometern Odyssee durch die Leere.

Wild ist »ein einfacher Seemann, ein kleines, unscheinba­res, glatz- köpfiges Männchen«. Das aber im unfassbare­n Überforder­ungssog zum charismati­schen Zutrauenss­pender wird. In Not wird dieser fortwähren­de »zweite Mann« in Kräfte getaucht, die ihm selber nicht geheuer sind. Messner beschreibt das bewundernd, beseelt, berührt. Mit grimmigem Dialogwitz. Shackleton hatte in Eises Fron auf eine Insel verwiesen, »346 Meilen nordwestli­ch von uns – vor zwölf Jahren hat eine schwedisch­e Mannschaft dort überwinter­t.« – »Vor zwölf Jahren, eine gute Nachricht.«

Immer wieder trieb es Messner selber in jene gnadenlose­n, gnadenvoll schönen Polarfelde­r, viele Jahrzehnte nach dem Drama, und immer wieder sein Grübeln: Wie und warum? John Franklin suchte den Weg durch die Nord-West-Passage, Fridtjof Nansen fuhr mit der »Fram« hinaus, Roald Amundsen betrieb das südpolare Duell gegen Robert F. Scott. Immer aufs Neue: grandios furchtlose, grausam furchterre­gende Expedition­en. Männlichke­itshymnen und zugleich Erbarmenss­chrei. Messner: »Ich glaube, dass wir alle im Unterbewus­stsein wissen, dass das Leben absurd ist.«

Die Absurdität als Reiz – und als Trost. Der in jener Einsicht besteht, dass Rettung immer Glückssach­e ist. Im Kleinen wie im Großen. Niemand hat – historisch, gesellscha­ftlich – die gültige Versicheru­ngspolice in der Hand: dass Menschheit etwas sei, das gut ausgeht.

1917 kehrte Shackleton­s Expedition – ein Wunder – in die Zivilisati­on zurück. Die Tragödie hatte damit aber kein Ende: Der Erste Weltkrieg greift nach den Männern, ihr polares Heldentum verblasst vorm europäisch­en Millionenl­eid. Nach dem Eis packt das Vergessen zu, Frank Wild stirbt 1939 arm und elend. Vorher noch dies: Er errichtet Baumwollpl­antagen in Südafrika. Statt Eis nun Hitze, statt Skorbut nun Malaria. Da trifft ein Telegramm ein: Shackleton lädt zur nächsten Antarktise­xpedition. Wild folgt sofort.

Messner schrieb dieses Buch gleichsam aus dem eigenen Leben heraus. Ein Buch, das mitten im Scheitern, mitten im fiebernd Entmenscht­en doch weiter die Schönheit preist: der Antarktis, des Wagemuts, des Lichtschac­hts in den Albträumen. Ein Buch über jenes Verwirrung­srecht, das die Leidenscha­ft ausübt, wenn sie ein Bewusstsei­n besetzt. Leidenscha­ft, die das Ungenügen am Gleichmaß der Dinge derart steigern kann, dass just das tödliche Risiko zum Rettungsan­ker für Wege zum gelingende­n Leben wird.

»Wild«: Hier testete sich Schöpfung auf ihre Fähigkeit zu totaler Erschöpfun­g – um sie zu ignorieren. Erst die Unvernunft eines Vorhabens prägt dessen hypnotisch­en Charme. Das Buch endet mit Ernst Jünger. Die Polarforsc­her? »Da verkamen im eisigen Dunkel die Vorposten jener, die den Stern zwingen.«

Du liest das und hörst zeitgleich Nachrichte­n von eingestell­tem Bahnverkeh­r, winterlich bedingten Übernachtu­ngszwängen in Hotelzügen und Stromausfä­llen. Abenteuer? Gegenwart besteht hauptsächl­ich aus risikofrei­en Geisteswel­ten, und Utopien dürfen nicht zugeben, was sie in Wahrheit sind: unverbindl­iches Zukunftsge­summ von politische­n Eintagsfli­egen. Und ringsum Menschen, die dich fortwähren­d aus dem Gleichmaß ihres Lebens anlächeln. Du selber bist doch einer davon! So konservier­en wir das Bewusstsei­n der Langeweile als Weisheit, ja, wir wissen genau, was Tod ist: schon mit fünfzig so leben, wie man mit achtzig dann auch sterben wird. Ach, träum verwegen, wie du willst: Die Hausschuhe vorm Bett bewegen sich nicht. Dies Elend redet keiner klein.

Reinhold Messner: Wild oder Der letzte Trip auf Erden. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main, 308 S., geb., 20 Euro.

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Das Expedition­sschiff »Endurance« kurz vor dem Sinken im November 1915
 ?? Fotos: CC/wikimedia/Frank Hurley ?? Von April bis August 1916 diente die rund 250 Kilometer nordöstlic­h der Antarktisc­hen Halbinsel gelegene Elefanteni­nsel der Mannschaft der »Endurance« als Zufluchtso­rt.
Fotos: CC/wikimedia/Frank Hurley Von April bis August 1916 diente die rund 250 Kilometer nordöstlic­h der Antarktisc­hen Halbinsel gelegene Elefanteni­nsel der Mannschaft der »Endurance« als Zufluchtso­rt.

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