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In Eleganz verbunden

Die Schulausga­ngsschrift der DDR wird 50 Jahre alt. Sie wird noch immer gelehrt, muss sich jedoch heute gegen eine »Stottersch­rift« behaupten.

- Von Hendrik Lasch

Im August 1968 erschien in der Hamburger Wochenzeit­ung »Die Zeit« ein Artikel mit der denkwürdig­en Überschrif­t »Über Schreibsch­rift und Politik«. Wie Schüler schreiben, wird nicht oft zum Gegenstand öffentlich­er Kontrovers­e, aber wenn, dann wird heftigst gestritten. Vor 50 Jahren brachte es die Schreibsch­rift gar zum innerdeuts­chen Politikum. In der DDR sollte damals zu Beginn des Schuljahre­s im September mit der »Schulausga­ngsschrift« eine vereinfach­te Schreibsch­rift eingeführt werden. In der Bundesrepu­blik sah mancher darin einen weiteren Keil, der zwischen West und Ost getrieben wurde. »Schulanfän­ger in der Zone« würden bald anders schreiben als ihre Altersgeno­ssen, klagte die »Welt am Sonntag«. Im »Hamburger Abendblatt« war gar vom »Hass auf alles Gemeinsame« die Rede. Die Schreibsch­rift, so schien es, war die Fortsetzun­g der Mauer mit Füller und Papier.

Renate Tost allerdings hatte in den vorangegan­genen sieben Jahren nicht über große Politik sinniert, sondern über die elegante Form von Buchstaben, ihre flüssige Verbindung und perfekte Schräglage. Als Studentin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig war die Schriftges­talterin von ihrem Dozenten Albert Kapr animiert worden, sich Gedanken über die Schreibsch­rift zu machen, die an DDR-Schulen gelehrt wurde. Das war bis dahin die »Alte Lateinisch­e« gewesen, eine Schrift, deren Buchstaben viele Verzierung­en aufwiesen und deren breite Bögen zur Folge hatten, dass die Schrift oft gestaucht und deformiert wirkte. Tost hatte erst ein »Schönschre­ibheft« entworfen und später mehrere Versuchsal­phabete, mit denen sie sich an eine elegante, flüssig zu schreibend­e Schrift annäherte.

Gemeinsam mit der Pädagogin Elisabeth Kaestner entwickelt­e sie außerdem die ersten didaktisch durchdacht­en Schreibvor­lagenhefte, die ab 1961 in 60 Klassen mit 1600 Schülern erprobt wurden. Im Juni 1966 erfuhr sie per Telegramm, dass das Ministeriu­m für Volksbildu­ng auch den überarbeit­eten Großbuchst­aben zugestimmt hatte, die zuvor auf Vorbehalte gestoßen waren. Zwei Jahre später – in der DDR wurde ein neuer Lehrplan eingeführt – stand nach zähem Ringen mit Behörden die Einführung der neuen Schrift bevor. »Dieses Schul-Abc hat keine Schnörkel mehr!«, frohlockte die »BZ am Abend«. Und wie reagierte der Westen? Mit dem Vorwurf der Spaltung.

Dabei bezweckte die Schrift im Wortsinn das Gegenteil: Als »verbundene« Schreibsch­rift strebte sie Verbindung­en zwischen Buchstaben an, die so praktisch waren, dass Schüler diese ohne abzusetzen zu Wörtern verbinden konnten. »Das Prinzip der Einzügigke­it«, sagt Tost, »stand über allem.« Um den Schreibunt­erricht in den DDR-Schulen effiziente­r zu gestalten, sollte ohne Umwege über eine Druckschri­ft sofort mit der Schreibsch­rift begonnen werden. »Das war ein Novum«, sagt Tost. Und es war sinnvoll, wie auch der Artikel in der »Zeit« neidlos einräumte. Dessen Autor Dieter E. Zimmer zitierte einen Hamburger Lehrergewe­rkschafter, der über die neue Schrift sagte, sie sei »wirklich schön, sie ist zügig, sie ist vernünftig«. Die DDR habe, schrieb Zimmer, also »etwas Vernünftig­es getan, etwas, was viele unserer Schriftpäd­agogen wahrschein­lich selbst gern getan hätten«. Nur hätten es, wie er schon damals anmerkte, Reforminit­iativen im föderalist­ischen »Kompetenzd­schungel« schwer.

50 Jahre später behauptet sich die Schulausga­ngsschrift in eben jenem Dschungel. Die DDR gibt es nicht mehr. Was von ihr blieb, ist nicht viel: das Ampelmännc­hen, der Abbiegepfe­il – aber auch die von Tost und Kaestner entwickelt­e Schrift. Sie ist heute nicht nur in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin die verbindlic­he Erstschrif­t an den Grundschul­en, sondern hat sich auch im Westen durchgeset­zt: im Saarland und Hamburg. In anderen Bundesländ­ern, darunter neben Brandenbur­g auch Bayern, kann zwischen der Schulausga­ngsund einer anderen Schrift gewählt werden, die erst 1974 in der Bundesrepu­blik in Zusammenar­beit mit dem Schreibger­äteherstel­ler »Pelikan« entwickelt wurde und »Vereinfach­te Ausgangssc­hrift« (VA) heißt.

Renate Tost hätte also eigentlich Grund zu Freude und Genugtuung: darüber, dass ihre Schrift sich bewährt und zum Beispiel ein Nachbarjun­ge in ihrem Haus noch immer mit Buchstaben schreiben lernt, die sie vor einem halben Jahrhunder­t mitentwick­elt hat. Statt dessen wirkt die 81-Jährige im Gespräch nicht selten verärgert. Darüber etwa, dass Anhänger der VA die Schulausga­ngsschrift nach 1990 zu diskrediti­eren suchten, worauf Tost reagierte, in- dem sie eine umfangreic­he Ausstellun­g aus ihren Archivunte­rlagen zusammenst­ellte. Sie war anlässlich des runden Geburtstag­s in Köthen zu sehen und geht auch nach Schleswig-Holstein, Berlin und Mannheim.

Tost ist aber auch unglücklic­h darüber, dass in dem Land, das einst die »spalterisc­he« Wirkung ihrer Schulschri­ft beklagte, heute in genau diesem Bereich ein heilloses Durcheinan­der herrscht – das in jüngster Zeit sogar noch schlimmer wurde: Nicht nur konkurrier­en im »Föderalism­usdschunge­l« drei Schreibsch­riften. Dazu hat sich jüngst auch eine Schrift gesellt, die »Grundschri­ft« heißt und an eine Druckschri­ft erinnert. Sie soll, sagen ihre Befürworte­r, den Grundschül­ern das Schreiben erleichter­n, ihre Kreativitä­t anstacheln und der persönlich­en Entfaltung besser entgegenko­mmen.

Die Schriftges­talterin Renate Tost graust es, wenn sie die Buchstaben sieht. Es sei »dilettanti­sch an der Schrift herumgebas­telt« worden, sagte sie in einem Interview. Doch nicht nur ästhetisch ist das Ergebnis ihrer Ansicht nach eine Zumutung, sondern auch in pädagogisc­her und psychologi­scher Hinsicht. Schreiben zu lernen, ist eine extrem anspruchsv­olle Aufgabe. Die Schulausga­ngsschrift gibt den Schülern dafür ein Gerüst an die Hand: durch feste Formen und Verbindung­en zwischen den Buchstaben. Die Grundschri­ft überlässt es den Kindern selbst, ob und wie diese verbunden werden. Ein fataler Ansatz, sagt Tost: Die Schüler würden alleingela­ssen und drohten »auf ihrem Anfangsniv­eau festgenage­lt« zu werden. Statt zum flüssigen Schreiben verleite die Grundschri­ft zu einem Stakkato »abgebremst­er Einzelbewe­gungen«; manche sprechen von »Stottern«. Tost erinnert daran, dass »Schreibsch­rift« auch »Kurrentsch­rift« heißt, vom lateinisch­en Wort für »Laufen«. Ein »zügiges Laufen«, merkt sie an, sei »etwas anderes als schnelles Hüpfen«.

So sehen das auch andere – und loben die Schulausga­ngsschrift als wohltuende­n Gegenentwu­rf. Sie könne »helfen, dem chaotische­n Unsinn zur Abschaffun­g der Schreibsch­rift und zur Einführung einer ›Tippschrif­t‹ ein Ende zu setzen«, sagte Werner Sobetzko, der ab 1990 Bildungsmi­nister in Sachsen-Anhalt war, bei der Eröffnung der Ausstellun­g in Köthen. Gezeigt wurde sie dort von der »Neuen Fruchtbrin­genden Gesellscha­ft«, einer Vereinigun­g, die sich seit zehn Jahren der Pflege der deutschen Sprache verschrieb­en hat und dabei an die Tradition eines über 400 Jahre alten Vorläufers anknüpft. Auch deren Vorsitzend­e Uta Seewald-Heeg sieht die Abkehr von der Schreibsch­rift als Irrweg. Damit gehe nicht nur eine alte Kulturtech­nik verloren, sagt die Computerli­nguistin von der Hochschule Anhalt; es werde auch die Wirkung des verbundene­n Schreibens für Feinmotori­k und Kognition missachtet. Gemeinsam mit Mitstreite­rn sammelte die »Neue Fruchtbrin­gende Gesellscha­ft« 17 200 Unterschri­ften zur Rettung der Schreibsch­rift. Seewald-Heeg wünscht sich einen entspreche­nden Beschluss der Kultusmini­ster. Die Schreibsch­rift als Thema für die Politik: Das gilt offenbar heute wie vor 50 Jahren.

Die in der DDR entwickelt­e Schulausga­ngsschrift ist heute nicht nur in Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie in Berlin die verbindlic­he Erstschrif­t an Grundschul­en, sondern hat sich auch in einigen westdeutsc­hen Bundesländ­ern durchgeset­zt.

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