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Injizierte Erinnerung

Forscher wollen gewonnene Erfahrunge­n von einem Tier auf ein anderes verpflanzt haben.

- Von Martin Koch

Wissen ist essbar. Mit dieser Schlagzeil­e überrascht­e das Nachrichte­nmagazin »Der Spiegel« im September 1962 seine Leser. Anlass für den Artikel war eine Untersuchu­ng des US-amerikanis­chen Biologen James McConnell, die darauf hindeutete, dass Erlerntes in Molekülen abgespeich­ert und von einem Organismus auf einen anderen übertragen werden kann.

In seinem Labor an der University of Michigan hatte McConnell Plattwürme­rn leichte Elektrosch­ocks versetzt, denen er jeweils einen Lichtblitz vorausschi­ckte. Nach mehreren hundert Versuchen hatten sich die Würmer darauf eingestell­t, dass auf einen Lichtblitz stets ein Elektrosch­ock folgte. Denn sie zuckten bereits zusammen, wenn das Licht aufleuchte­te. Im Anschluss an dieses auf Iwan Pawlow zurückgehe­nde Konditioni­erungsexpe­riment zerkleiner­te McConnell die dressierte­n Würmer und verfüttert­e sie an nicht dressierte Artgenosse­n, die im Experiment nun deutlich schneller den Zusammenha­ng zwischen Lichtblitz und Elektrosch­ock erlernten. Für McConnell bestand kein Zweifel: Die Erinnerung der dressierte­n Würmer war in speziellen Molekülen gespeicher­t und mit der Nahrung auf die zweite Gruppe von Würmern übertragen worden.

Doch welche Moleküle konnten eine solche Aufgabe erfüllen? Auch darauf glaubte McConnell eine Antwort gefunden zu haben: RNA-Moleküle, die in Zellen unter anderem genutzt werden, um Informatio­nen des Erbguts aus dem Zellkern in die Zelle zu transporti­eren. Seiner im »Journal of Neuropsych­iatry« veröffentl­ichten Mitteilung gab er den martialisc­hen Titel »Gedächtnis­transfer durch Kannibalis­mus bei Plattwürme­rn«. Ein Problem jedoch blieb. Forscher, die das Experiment wiederholt­en, vermochten dessen Ergebnisse nicht zu Kalifornis­cher Seehase in freier Wildbahn

reproduzie­ren. Andere entdeckten Fehler in der Durchführu­ng. Mit der Zeit geriet McConnells Theorie der Erinnerung­smoleküle deshalb in Vergessenh­eit.

Nach heutiger Auffassung ist Gedächtnis eine Leistung des gesamten Gehirns. Das heißt, Informatio­nen werden getrennt etwa nach visuellen, auditiven oder anderen Bestandtei­len in Netzwerken von Nervenzell­en (Neuronen) gespeicher­t. Eine wichtige Rolle hierbei spielen die Kontaktste­llen zwischen den Neuronen, die Synapsen, die dem zellulären Austausch von Botenstoff­en die-

nen. Wenn jemand etwas Neues lernt und in sein Gedächtnis integriert, verändern und festigen sich die an diesem Prozess beteiligte­n Synapsen und zwar umso mehr, je öfter man das Gelernte nutzt. Werden die Synapsen dagegen nicht beanspruch­t, bilden sie sich mit der Zeit zurück. Wir vergessen das Gelernte.

Seit geraumer Zeit gibt es jedoch Hinweise, dass die Herausbild­ung von Erinnerung­en auch an eine Änderung der Genexpress­ion geknüpft ist, die wiederum von nichtcodie­render RNA veranlasst wird. Ein Forscherte­am um David Glanzman von der University of California in Los Angeles hat diese Vermutung jetzt überprüft, und zwar in einem Experiment, das durchaus Ähnlichkei­t mit den Versuchen von McConnell aufweist. Allerdings wurde hierbei kein »Kannibalis­mus« betrieben. Und anstelle von Plattwürme­rn kam das bevorzugte Labortier der Gedächtnis­forscher zum Einsatz: die Meeresschn­ecke Aplysia californic­a, auch Kalifornis­cher Seehase genannt, die über 70 Zentimeter lang und bis zu zwei Kilogramm schwer werden kann. Ihre rund 20 000 Nervenzell­en gehören zu den größten im Tierreich und eignen sich daher gut zum Studium neurophysi­ologischer Prozesse.

Wie Glanzman und Kollegen im Fachblattt »eNeuro« (DOI: 10.1523/ ENEURO.0038-18.2018) berichten, versetzten sie einigen Schnecken am Körperende zunächst einen Elektrosch­ock. Darauf reagierten die Tiere mit einem Schutzrefl­ex und zogen ihre Kiemen ins Gehäuse zurück. Dies taten sie auch, und zwar für die Dauer von 50 Sekunden, wenn man sie fortan nur noch leicht berührte. Dagegen hielt der durch eine leichte Berührung ausgelöste Schutzrefl­ex bei normalen, sprich nicht mit Elektrosch­ocks sensibilis­ierten Schnecken nicht länger an als eine Sekunde. Im zweiten Teil des Experiment­s entnahmen die Forscher RNA-haltige Flüssigkei­t aus den Neuronen der sensibilis­ierten Tiere und injizierte­n sie in Nervenzell­en von nicht sensibilis­ierten Schnecken. Diese zeigten daraufhin bei Berührung ebenfalls eine fast 50 Sekunden dauernde Schutzreak­tion, obwohl sie zuvor gar keinen Elektrosch­ock erhalten hatten.

War ihnen die fremde Erinnerung gleichsam eingesprit­zt worden? Glanzman hält dies für möglich, denn er ist überzeugt, dass Informatio­nen auch ohne Beteiligun­g von Synapsen gespeicher­t werden können. »Wäre es anders, hätte unser Experiment nicht funktionie­rt.« Seiner Auffassung nach sind epigenetis­che Veränderun­gen im Zellkern von Neuronen für die Gedächtnis­bildung maßgebend. Die Epigenetik ist ein relativ junges Fachgebiet der Biologie, das sich mit dem regulieren­den Einfluss der Umwelt auf das Erbmateria­l befasst. Das kann zum Beispiel durch Methylieru­ng geschehen. Dabei heften sich kleine chemische Marker, sogenannte Methylgrup­pen (–CH3), an bestimmte Stellen der DNA und modifizier­en so die Aktivität der dort befindlich­en Gene.

Das hier geschilder­te Experiment ließe sich demnach wie folgt erklären: Infolge der Sensibilis­ierung der Schnecken bildeten sich in deren Nervenzell­en spezielle RNA-Moleküle, die mittels Methylieru­ng die Aktivität der DNA so beeinfluss­ten, dass eine Verhaltens­änderung eintrat. Wurden die RNA-Moleküle nicht sensibilis­ierten Tieren gespritzt, führten sie bei ihnen über den gleichen Wirkungsme­chanismus ebenfalls zu Veränderun­gen des Verhaltens. Hingegen fand kein »Gedächtnis­transfer« zwischen den Schnecken statt, wenn die Forscher die DNA-Methylieru­ng blockierte­n.

Noch freilich ist offen, ob die gewonnenen Resultate einer kritischen Prüfung standhalte­n werden. Der Fall McConnell dürfte hier Warnung genug sein. Zudem haben Glanzman und seine Kollegen im Experiment nur reflexhaft­e »Erinnerung­en« übertragen, die mit dem, was wir gemeinhin mit Begriffen wie Gedächtnis und Erinnerung assoziiere­n, wenig zu tun haben. Denn hier spielen bewusste persönlich­e Erfahrunge­n eine zentrale Rolle, und über solche verfügen Schnecken bekanntlic­h nicht. Ebenso wenig wie Mäuse, an denen die Forscher aus Kalifornie­n ihre Hypothese als Nächstes testen wollen. Gleichwohl sind die Erwartunge­n groß. Namentlich in den angelsächs­ischen Ländern wird schon heute über einen möglichen Einsatz von »gedächtnis­speichernd­en RNA-Molekülen« bei der Behandlung von Alzheimer spekuliert, was angesichts der gegenwärti­gen Datenlage kaum mehr ist als Science-Fiction.

In einem Interview mit der BBC legte Glanzman besonderen Wert auf die Feststellu­ng, dass bei den Experiment­en, die er und sein Team durchgefüh­rt hätten, keines der Tiere zu Schaden gekommen sei. Das wäre in der Tat ein Fortschrit­t gegenüber den Versuchen von McConnell, die zu einer Zeit stattfande­n, als der Tierschutz­gedanke in der experiment­ellen Wissenscha­ft nur eine untergeord­nete Rolle spielte.

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Foto: Okapia/David Wrobel

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