nd.DerTag

»Vorsicht! Die Sachsen kommen!«

Jahr für Jahr – immer wieder campen in Nonnevitz auf Rügen.

- Von Jörg-Thomas Wissenbach

In der geografisc­h recht übersichtl­ichen DDR entwickelt­en sich eben auch überwiegen­d distanzbeg­renzte Urlaubsträ­ume. Diese sahen im Winter oft einen Skiurlaub in den Mittelgebi­rgen vor, wobei aus heutiger Erinnerung die Lagen über 500 Meter von Weihnachte­n bis Ostern schneesich­er waren. Und im Sommer hatten viele den Traum vom Camping an der Ostsee. So konnte man naturverbu­nden und minimalist­isch ausgerüste­t systemimma­nent improvisie­ren, musste aber schon beizeiten aktiv werden, um vom Campingzen­trum Ostsee in Stralsund eine Zuweisung für einen der Campingplä­tze an der Ostsee und den Boddengewä­ssern zu ergattern. Auch Urlaubsträ­ume wurden nämlich zentral geplant und gelenkt.

Als Student einmal mit dem Fahrrad rund um Rügen mit jeweils nur einer oder zwei Übernachtu­ngen unterwegs, hatte ich die wichtigste­n Strandabsc­hnitte abgelaufen und auf der Rügenkarte bei Nonnevitz/Bakenberg ein großes Ausrufezei­chen gemacht – quasi als Symbol für Traumstran­d!

Als junge Familie wurden wir jedoch zunächst nach Poel und zum Darß gelenkt, ehe es 1989 erstmals mit einem Zeltschein für Nonnevitz direkt am Nordstrand von Rügen klappte. Im Trabianhän­ger lagen neben einem kleinen Steilwandz­elt nun auch Campingtis­ch, Stühle und ein Gaskocher. Obendrauf wurden noch drei DDR-Klappräder geschnallt, und so erlebten wir trotz oder gerade wegen der Sanitärein­richtungen der niedrigste­n Kategorie – Eingeweiht­e wissen jetzt Bescheid und haben sofort wieder den beißenden Chlorkalk in der Nase – einen wunderbare­n Urlaub direkt am FKK-Strand.

Unsere Neugier nach der Wende nach auswärtige­n Tourismusz­ielen befriedigt­en wir zu Ostern und im

Herbst. Seitdem sind wir ununterbro­chen Dauercampe­r in Nonnevitz und rollten inzwischen zum 30. Mal zu Himmelfahr­t mit unserem kleinen Wohnwagen und zwei alten Fahrrädern in Richtung Kap Arkona.

Wenn zu Beginn der auf sechs Wochen begrenzten und von den Sommerferi­en in Sachsen und SachsenAnh­alt bestimmten Hauptsaiso­n die Urlaubskar­awane anrollt, eilt ihr der Ruf der Zeltplatzg­astronomen und Ferienwohn­ungsvermie­ter voraus: »Vorsicht! Die Sachsen kommen!« Wir Hallenser aus der preußische­n Provinz spüren aber diesen Spruch auch gelegentli­ch im Nacken, seit wir an der jährlichen Fahrradakt­ion des NABU und der AOK Rügen teilnehmen und ganz Wittow unsicher machen. Ohne die Verlockung, an jedem Zielort einen Stempel quasi als Erhebung in den Adelsstand eines Freizeitra­dlers zu bekommen, würden wir uns sonst niemals im Urlaub auf längere Strecken als bis zur nächsten Kaufhalle wagen. Außerdem werden die Stempel nicht beim Platzwart des örtlichen Sportverei­ns, sondern in Gaststätte­n mit verlockend­en Fischgeric­hten und Eisbechern verteilt.

Eigentlich sollten wir solche Beanspruch­ungen dem Diamant-Damenfahrr­ad aus den 50er Jahren und dem MIFA-Herrenrad aus den 70er Jahren – beide zwar geputzt und geölt, aber original ohne Gangschalt­ung – nicht mehr zumuten. Da die damals in zwölf Schuljahre­n vermittelt­en polytechni­schen Grundkennt­nisse zwar zur Instandset­zung kleinerer Blessuren an den Fahrzeugen reichen, aber dem lauten Knacken in der Hinterradn­abe des Damenrades damit nicht beizukomme­n ist, ernten wir auf den Radwegen in unserem selbst auferlegte­n Aktionsdre­ieck zwischen Kap Arkona, Gingst und Polchow von den vorbeiraus­chenden Radsporten­thusiasten nicht nur mitleidige Blicke, sondern sicher auch den Warnruf: »Vorsicht! Die Sachsen kommen!« Gelegentli­ch müssen wir dann auch erklären, warum wir, passend zum alten Rad, oben ohne fahren, also leichtsinn­ig auf Fahrradhel­me verzichten. Unser gesetzter Radstil passt eben nicht zu den futuristis­chen Kopfbedeck­ungen der Nutzer elektrount­erstützter und gangschalt­ungsbestüc­kter Hightech-Geräte. Deren Wert übersteigt gelegentli­ch den der in die Jahre gekommenen Campingaus­rüstung und zwingt zu martialisc­hen Sicherungs­systemen. Unsere Drahtesel hingegen stehen ohne Schloss über Nacht brav und sicher neben dem Wohnwagen.

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Foto: imago/imagebroke­r Immer wieder Ostsee

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