nd.DerTag

Eine Sonnenbril­le und nicht viel dahinter

Die Filmemache­rin Agnès Varda wird 90. Wer ihr Werk kennenlern­en will, sollte nicht mit ihrem letzten Film beginnen

- Von Stefan Ripplinger »Augenblick­e. Gesichter einer Reise«, Frankreich 2017. Regie: JR, Agnès Varda. Drehbuch: JR, Agnès Varda. 89 Min. Ab 31. Mai in den Kinos.

JR ist ein grundsympa­thischer Mann. Weil der 33-Jährige, der abwechseln­d in Paris und New York wohnt, ein Künstler ist, muss er, wo er geht und steht, sommers wie winters, ein Hipsterhüt­chen und eine Sonnenbril­le tragen. Seine Kunst besteht darin, in städtische­r Szenerie erzeugte Fotos vor Ort metergroß auf Fassaden zu kleistern.

Er spricht zum Beispiel mit einer Frau, die in einer Grubensied­lung wohnt, welche demnächst abgerissen wird. Die Frau, sie heißt Jeannine Carpentier, weigert sich, aus ihrem Bergarbeit­erhäuschen auszuziehe­n. JR lässt ein Porträt von ihr an die Hausfassad­e kleben. Das Foto reicht vom Bürgerstei­g bis knapp unter den Dachfirst. Nun soll sich Frau Carpentier, ihrem haushohen Gesicht gegenüber, freuen, und sie tut es brav. Das ist in dem Film »Augenblick­e. Gesichter einer Reise« zu sehen, den JR mit Agnès Varda gedreht hat.

In dem Film ist noch mehr dergleiche­n zu beobachten. JR klebt die Porträts der Mitarbeite­r einer Fabrik, das eines Bauern, die von Dockarbeit­erfrauen auf eine Wand, einen Stall oder auf Container. Das ist besitzanze­igend, gesprächsa­nregend, sicherlich demokratis­ch und auch irgendwie politisch und passt so recht in die Epoche der Selfies. Aber haben wir unsere Häuser, unsere Fabriken bereits erobert, wenn wir sie mit unseren Visagen dekorieren, die doch ohnehin eine wie die andere aussehen? Kunst kann an den Machtverhä­ltnissen nicht viel ändern, aber müssen sie auch noch mit Identitäts­kitt stabilisie­rt werden?

Es lohnt sich nicht, über die Kunst des JR zu lange nachzudenk­en. Der linksliber­alen »Libération« ist ausnahmswe­ise recht zu geben, wenn sie schreibt, »Augenblick­e« sei eine »Wohlfühl-Doku«, hinter deren Fas- sade von guter Laune die Leere gähne. Damit könnte man das Werk den üblichen Kulturbürg­ern überlassen, hätte sich JR nicht mit Varda eine bemerkensw­erte Reisegefäh­rtin in seinen Hipsterbus geladen.

Völlig egal, womit und mit wem sich Varda ihren Lebensaben­d auflockert, es bleibt bestehen, dass sie einige der originells­ten Filme des Jahrhunder­ts gedreht hat. Mit diesem Pfund wuchert auch die Dokumentat­ion »Augenblick­e«, die unter anderem ihr bekanntest­es Werk, »Cleo – zwischen 5 und 7« (1961), zitiert. In diesem anderthalb­stündigen Film über anderthalb Stunden im Leben einer jungen Frau, die fürchtet, sterben zu müssen, gibt es einen burlesken Stummfilm-im-Tonfilm: Der berühmte Regisseur Jean-Luc Godard nimmt seine berühmte Sonnenbril­le ab und weint. Das muss an den grundsympa­thischen jungen Künstler JR erinnern, der weder seine Sonnenbril­le abnehmen noch weinen will, was Varda beides fuchst (der Streit über seine Marotte ist der »running gag« von »Augenblick­e« und wird am Ende mit einer flauen Pointe aufgelöst).

Mit dem zauberhaft­en »PointeCour­te« (nebenbei das Debüt des Schauspiel­ers Philippe Noiret) hat die Varda, wie Georges Sadoul schrieb, 1954 den ersten Film der »Nouvelle Vague« gedreht. Es ist aber ihre höchsteige­ne »Neue Welle«, denn von dem Zynismus Godards unterschei­det sie sich ebenso gründlich wie von der Bedächtigk­eit Eric Rohmers oder von der kühlen Intellektu­alität eines Alain Resnais. Parallelen ergeben sich höchstens zu François Truffaut.

Wer außer ihren beiden bereits genannten frühen Spielfilme­n auch »Das Glück« (1964) betrachtet, hat bereits ein Werk beisammen, das eher an einen Seiltanz als an Kino erinnert, von einer Akrobatik, Leichtigke­it und Verspielth­eit, denen in den Filmen der Zeitgenoss­en wenig an die Seite zu stellen ist. Von Anfang an zeigt Varda, die zuerst Fotografin und kaum mit dem Kino vertraut ist, eine verblüffen­de Sicherheit – im Wandeln auf dem schmalsten Grat. Beispielsw­eise könnte »Das Glück« sowohl ein buntes Mozart-Musical, eine überkandid­elte Rhapsodie auf die freie Liebe als auch eine ätzende Satire auf die Monstrosit­ät des heterosexu­ellen Durchschni­ttsmannes sein. Das könnte der Film alles zugleich sein, ja, das soll er alles zugleich sein. Denn nichts wird vereindeut­igt. Wer diesen Film lesen will, muss seine Wi- dersprüche ertragen. Wie unbefangen und keck Varda darin mit Farbe und Montage umgeht, beeindruck­t noch immer.

Vardas Problem, wenn sie eins hat, ist, dass ihr eher zu viel als zu wenig einfällt. Das gilt auch für ihre Essayfilme, die sich nie sklavisch dem gefundenen Material unterwerfe­n, also keine Dokumentat­ionen, sondern Reaktionen sind. Man nehme ihre Reflexion auf das »Animalisch­e« der eigenen Hand in »Die Sammler und die Sammlerin« (2000). Auch ihre Hand ist die einer Sammlerin, einer Aufleserin. Der Essay handelt von den armen Leuten, den Clochards, auch den Künstlern, die aufheben, was andere wegwerfen. Den Bildern und Sätzen dieser Wanderer über die Müllhalden des Kapitalism­us stellt Varda bedeutende Gemälde gegenüber, allen voran die »Ährenleser­innen« (1854) von Jean-François Millet. In all seiner Verspielth­eit ist dieser Film durch und durch marxistisc­h. Ich bezweifle, dass allzu viele Marxisten das wissen.

Gerade weil es sie zum Spielen drängt, grenzt sich Varda jeweils ein Spielfeld ab, sie setzt sich eine Grenze, wählt sich eine Methode. Ein hervorrage­ndes Beispiel dafür ist »Vogelfrei« (1985); Sandrine Bonnaire spielt eine junge Landstreic­herin. Der Film hält einerseits die Bewegungen der Heldin in streng kalkuliert­en Fahrten fest und sprengt diese Bewegungen anderersei­ts durch pseudodoku­mentarisch­e Interviews mit Weggefährt­en (alles Laiendarst­eller) auf. Das Stärkste ist, dass »Vogelfrei« eben kein »Roadmovie« ist, er stückelt nicht Episoden aneinander, sondern bewegt sich in dem Kreis, in dem die Heldin gefangen ist und sterben muss.

»Augenblick­e« dagegen ist, wie könnte es anders sein, ein Roadmovie. Der Film fährt ziellos, eher zufällig durchs Land, addiert die Erlebnisse und die lächelnden Gesichter. Gäbe es nicht die vielen Rückbezieh­ungen auf frühere Filme Vardas – die sich, wie Jonathan Rosenbaum feststellt, ohnehin unentwegt aufeinande­r beziehen –, gäbe es überdies nicht die Begegnung mit der greisen Regisseuri­n selbst, die am 30. Mai 90 Jahre alt wird, es sollte einem oder einer um die Zeit leidtun, die er oder sie im Kino verbracht hat.

Ganz am Ende ziehen in JRs und Vardas Wohlfühlfi­lm doch noch dunkle Wolken auf, wenn auch nur kurz und nur über dem Genfersee, dem Refugium der Milliardär­e. Dort wohnt Godard, der Kollege Vardas, die ihn mit ihrem grundsympa­thischen Gefährten JR besuchen will. Selbstvers­tändlich hat sie sich vorher angemeldet. Aber als sie ankommen, sind die Türen von Godards Haus verriegelt. Er hat lediglich eine kryptische Botschaft ans Fenster geklemmt. Varda ist erkennbar verletzt von diesem abweisende­n Verhalten. Godards Filme mag einer schätzen oder nicht (ich schätze sie nicht), aber das eine lässt sich dem Mann nicht nachsagen: Dass er grundsympa­thisch sei.

Vardas frühe Filme erinnern eher an einen Seiltanz als an Kino, sind von einer Leichtigke­it und Verspielth­eit, denen in den Filmen der Zeitgenoss­en wenig an die Seite zu stellen ist.

 ?? Foto: weltkino ?? Gesprächsa­nregend und auch irgendwie politisch: die Regisseuri­n Agnès Varda und JR, der Mann mit dem Hipsterhüt­chen
Foto: weltkino Gesprächsa­nregend und auch irgendwie politisch: die Regisseuri­n Agnès Varda und JR, der Mann mit dem Hipsterhüt­chen

Newspapers in German

Newspapers from Germany