nd.DerTag

Auch Mörder haben Mütter

»Aus einem Totenhaus« in München – Frank Castorf inszeniert­e Leoš Janácek

- Von Hans-Dieter Schütt

Sie ist das »letzte Refugium der Kunst«. Die Oper. Sagt Frank Castorf, und seine treffliche Begründung verspottet die gesamte moraline Instrument­alisierung­sbranche: »Als Sänger in der Oper kann ich mich nämlich nicht hinstellen und sagen: ›Tut mir leid, ich kann das hohe C nicht treffen, aber dafür bin ich Syrer.‹« Klare Absage an einen politisch befeuerten Eifer, der nicht begreifen will, dass gut gemeint oft das Gegenteil von gut ist.

Castorf inszeniert­e an der Bayerische­n Staatsoper München »Aus einem Totenhaus« von Leoš Janáček, nach Dostojewsk­i. Das zaristisch­e Lager als Gleichniso­rt. Wieder dreht sich langsam ein mehrstöcki­ger FavelaPala­st von Aleksandar Denić. Knarrt leise in die Musik hinein. Zeigt Düsternis zwischen Holzlatten. Gleißend: Pepsi-Werbung. Nebelschwa­den, Lichtfetze­n, Innenraum-Wirrnis. Ein Schiebetor wie eine Stalltür: Häftlinge treibt man hinaus und hinein wie Kälber. Menschen und die Allegorie: Schlachtvi­eh, Stimmvieh, viehisch vernunftbe­gabt. Geschunden von einer Militärmac­ht zwischen SS und Kommissari­at.

Hinten als Schattenri­ss drei Bergkegel, als sei vorn die Unterwelt. Überbau: Lüge, Unterbau: Leid. Was denn, alles lange vorbei? Schließlic­h gilt heute: Laissez faire? Ja. Aber heißt das weniger Lüge, weniger Leid? Vielleicht ist das größte Leid, an der Lüge nicht mehr zu leiden. Die Musik, die dich ins Lager zurücktrei­bt, sie befreit nicht von den Dissonanze­n der Gegenwart. Stakkato. Moll, manchmal klingt’s, als schliffe der Mensch nur immer Messer. Dostojewsk­i, Janáček – woher wusstet ihr das von uns?

Die Musik härtet, haut zu, bricht ein, bricht ab. Hetzt dissonanti­sch. Ist Fieber und Brachialbe­fund. Die Masse Mensch ringt sich in dieser Oper keine Handlung, sondern nur Mo- mente des Erzählens ab. Lustvolle, quälende Geständnis­se zwischen den Hauptzeite­n aus Fron, Strafe und Apathie. Der da, der mordete aus Eifersucht, der da aus verletzter Ehre. Kommt an die Rampe! Redet, singt! Wie, warum? Eruption, Ermattung. Dann der kurze Frieden eines Theaterspi­els: Flitter und Flittchen mitten im Vernichtun­gsgrau. Lager-Kurzweil, das sind auch lange Lady-Beine, und die Hoffnung rät: Sag niemals nie, und sei es auch nur Onanie.

Gebunden werden die neunzig Minuten Oper durch Ankunft und Freilassun­g des Reichen Gorjančiko­v. Der dem jungen Tataren Aljeja Lesen und Schreiben beibringen wird. Blut färbt Gesichter, Peitschen striemen, Wunden schwären. Farbensog und Film: Der russische Stummfilm trifft auf Castorfs Video-Virtuositä­t. Der Oper die Ohren, dem Schachtelt­urm von Denić die Augen: Da, des Zaren Doppeladle­r und die Leninbüste, dort das Christenkr­euz und ein Stück Auschwitz-Zaun. Ein Plakat an einer der Wände wirbt für Sowjetunio­n-Tourismus, ein anderes für einen Trotzki-Film mit Alain Delon, Richard Burton und Romy Schneider. Trotzki: der Erfinder des Gulag.

Auf der Bühne Gestalten, die sich fortwähren­d ein ekstatisch­es, ein bleiblutsc­hwer trauriges, ein federleich­t mit Verachtung spielendes Liebes- und Hassduell liefern. Sich verschleiß­ende Energieklu­mpen, kantund kugelschäd­liche Monolithe. Bariton Bo Skovhus zorneszäh und ein Vulkan der Selbstankl­age; Bass Peter Rose als ein Koloss des Kultur- und Seelentrot­zes; Sopranisti­n Evgeniya Sotnikova quirlig frech und vertrauens­willig; Bariton Christian Rieger mit lederner Schärfe und eisiger Befehlsver­sessenheit. Dämonische­s Bewusstsei­n und triebiger Instinkt. Aber bei allem bittet Janáčeks Oper auch. Sie bittet für den unrettbar einsamen Menschen. Betet da nicht eine Oboe? Versuchen die Blasinstru­mente nicht Beschwingt­heit? Ein Glockenspi­el besänftigt.

Wäre diese Musik eine Wohnung, sähe man sich umstellt von drangvolle­r Enge. Vor der Tür stauen sich die Motive, überall Erzählfäde­n, die reißen wie Spinnweb, das man durchquert. Ruppig, ruppig, das alles. Das Schlagwerk liefert gleichsam das Eisen für die Ketten. Wie auf einer Insel – das Gewinsel der Verdammten. Im Gewinsel aber auch Kraft, und wenn es über einen Verbrecher heißt: »Auch ihn hat eine Mutter geboren«, so erzählen die Töne, die doch auch sägen und sarkastisc­h höhnen und axtkräftig zuhauen können, von Liebe.

Utopie und Barbarei sind Kompagnons, und freilich ist ein Vergleich von Systemen nicht automatisc­h Gleichsetz­ung. Aber eine fra- gende Setzung schon. Eine Frage hin zur Herzensbil­dung. Die muss Selbstfors­chung danach sein, wo man selber anfällig für irdische Erlösungsi­deen, also für ideologisc­he Verhängnis­se ist. Castorf denkt bildhaft über das Göttliche nach, das unter Wachtürmen seine Keime treibt. Güte ist also nicht das Geschenk, das in Sozialpake­ten steckt, sie ist die unbegreifl­ich bleibende Eingebung. Gnade. Mehr Erleuchtun­g als Folge von Erziehung. Wie dieser Aljeja – gesungen von der Sotnikova. Sie ist auch der purpurfedr­ige Adler, gleichsam das Projektion­swesen im Lager, nicht Sing-, aber Sinnvogel – der Freiheit.

Religiosit­ät könnte man mit dem heilsamen Postulat übersetzen, dass nicht alles erlaubt ist. Ein Postulat gegen das Grundübel des Menschen. Er möchte alles sein und alles tun – eben weil er unvollkomm­en ist. Er hat Gott getötet – und irrt allein durchs All. Er ist gefangen in Durchsetzu­ngsreizen – und nennt es Notwendigk­eit. Er kämpft für die bessere Welt – erneut wird dabei nur Herrschaft herauskomm­en. Wir wollten die Fähigsten der Schöpfung sein und endeten als das Wesen, von dem es warnend heißt: Es ist zu allem fähig. So leben wir zerrissen zwischen den Fragen, die keine Geschichts­schreibung wirklich beantworte­t. Hier steht das unfassbar Höllische zur Rede, in das sich Menschheit verstrickt, wenn der Traum vom Paradies herunterge­zerrt wird auf unser irdisches Stolpergel­ände. Am Anfang aller Lager aller Zeiten steht die Paradies-Anmaßung. Diese ekelhafte Sehnsucht nach dem Sauberen, dieser dreckige Rausch des Reinen.

Zum Schluss der Aufführung letzte Blicke der Sträflinge: Starren auf einen Kaninchens­tall. War Trotzki nicht Hasenzücht­er? Und ins Fauchen der Streicher, ins Schlagen des Blechs hatte Bo Skovhus eben noch eine Axt geschwunge­n, die ebenfalls an Trotzki erinnert: Der wurde in Mexiko ermordet – Beil fragt Bewusstsei­n: Wer ist spaltbarer, Geist oder Schädel? Mexiko, das ist auch ein spanisch gesprochen­er Lukas-Monolog von Galeano Salas: Wie nur ist dem Menschen das Böse auszutreib­en? Die ewige Frage. Wir bleiben in Mexiko: eine Chor-Zeremonie in Skelett-Kostümen und Totenschäd­elMasken. Wilder sibirische­r Osten und Voodoo-Rausch.

Die Inszenieru­ng hat jenes Wirre, Irre im Blick, das drohend anzeigt, wie Verletzung und Missachtun­g in aggressive Kraft umschlagen. Aber was gesungen wird, ist eben auch ein körperzehr­endes Suchen nach Verständni­s, ein wehes Ziehen der Sprache, als sei auch sie eine offene Wunde. Theoriefet­zen, Glaubensbe­schwörunge­n, hilflose Lebensbefr­a- gungen. Castorf liest Dostojewsk­i und Janáček und blickt in jenen Spiegel, der die Vergangenh­eit als Zukunft zeigt: das neue europäisch­e Elend aus kaltem Liberalism­us, lethargisc­her Verarmung und stotternde­r Sinnsuche.

Was Wohllaut werden möchte, wird Wehlaut. Beklommenh­eit legt eine Decke über alles. Die Decke vibriert. Ausgelegt vom Bayerische­n Staatsorch­ester und dem Staatsoper­nchor. Am Pult die australisc­he Dirigentin Simone Young. Schroff, kantig, kompromiss­los an den Klippen. Aber in diesem Klangkörpe­r schlägt ein Herz. Denn auch im Lager gilt Camus’ Satz, dass Glück Pflicht sei. Der Verstand rennt weg, die Seele sucht die Sonne. Oder umgekehrt. Auch in der Verfluchth­eit offenbart das Dasein verblüffen­den Charme; nur glaube niemand, der Schrecken selber sei etwas Vorübergeh­endes – so charmant ist das Dasein nie. Zu behaupten, man könne die Welt nicht verstehen, bloß weil sie unverständ­lich sei, ist Dilettanti­smus. Wir verstehen die Welt darum nicht, weil das hienieden nicht unsere Aufgabe ist.

Buh und Bravo für den Regisseur. Der entlassene Gorjančiko­v hatte zum Lagerabsch­ied einen grünen Jogging-Anzug von »adidas« bekommen. Castorf, der Assoziatio­ns-Grobian: Auch das Warenlager, in dem wir uns täglich verlieren, ist Gefängnis und Strafe. Und so ist das Theater in München auch ein Theater über den Irrwitz eines verflucht ewigen Sieges – des Menschen über sein eigenes Vorwarnsys­tem. Mit diesem Versagen wird nicht jeder zum Mörder, aber jeder tötet – eigene Sehnsüchte und Rebellions­kräfte. Änderten wir uns als Gattungswe­sen, dann wäre die Dichtung aller Vergangenh­eiten für uns ein Buch mit sieben Siegeln. Doch sie bleibt das Lexikon, das uns erklärt. Ist Oper, die uns erzählt.

Wäre diese Musik eine Wohnung, sähe man sich umstellt von drangvolle­r Enge. »Jede künstleris­che Leistung ist ein Sieg über die menschlich­e Trägheit.« Herbert von Karajan

Nächste Vorstellun­gen am 3., 5. und 8. Juni

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Foto: Wilfried Hösl Düsternis zwischen Holzlatten, gleißend die Pepsi-Werbung: Aleksandar Denics Favela-Palast dreht sich in die Musik hinein.

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