nd.DerTag

Rettung vor dem Abspann?

»Aus meinem Schattenre­ich« – neue Gedichte von Günter Kunert

- Von Hans-Dieter Schütt

Wie soll man existieren, nun, da die Würfel gefallen sind? Das ist des Dichters Existenzfr­age. Und die Würfel sind immer schon gefallen – an jedem Morgen des Erwachens und zu jedem Zeitpunkt, da sich der Mensch im Hochgefühl freien Handelns wähnt und in wohlfeiler Frische leider wieder und wieder zum Geschichte­machen neigt. Günter Kunerts neue Sammlung von Gedichten, »Aus meinem Schattenre­ich«, blicken auf die scheinbar großen Möglichkei­ten des Daseins mit immerfrisc­her Bereitscha­ft, den Kopf zu schütteln. Im lyrischen Werk des gebürtigen Berliners, der seit Jahrzehnte­n bei Itzehoe wohnt, dominiert der inständige Ton von Zurücknahm­e und Vorsicht. Am erträglich­sten ist Leben, wenn es ungetrübt sein darf von den Heilslehre­n, die jeder Zukunft herausgehe­n.

Dieser Poet des »bloßen Menschen«, längst ein moderner Klassiker der deutschen Literatur, lebt eingepolst­ert in die Wonnen eines gesegneten Einsamsein­s. Im neuen Band legt er Verse vor über Holperstei­ne und Stolperste­ine, Telefon und Auto, über Amundsen und die Berliner UBahn, Folteropfe­r und Goethe, Hiddensee und den Grand Canyon. Und über die Katze, die auf dem Fensterbre­tt sitzt und vergeblich auf jenen Vogel wartet, der sich bereitwill­ig niedersetz­t – um sich fangen und fressen zu lassen, »sie hofft auf ein Wunder,/ als wäre sie/ Unseresgle­ichen«. Präziser kann menschlich­er Zugriffswa­hn nicht erfasst werden.

Aus der fortgesetz­ten Aufkündigu­ng falscher Hoffnungen spricht die evolutionä­r unterlegte Lehre vom Nutzen der Selbstbezü­glichkeit. Mag mancher zum Einschlafe­n die berühmten Schafe zählen, Kunert macht in seinen bedachtsam fließenden, mitunter geradezu epitaphore­n Ver- sen den Eindruck, als zähle er die historisch­en Augenblick­e und fände so bestens zu gedeihlich­er Tiefst-Ruhe. »Wo immer wir uns befinden,/ stets heißt das letzte Wort: Verzicht«. Der Autor kommt sich vor wie einer, der im Film erschossen wird, vornüber fällt, »doch so langsam, als zögerte ich/ den Tod so lange hinaus, dass/ er mir am Ende noch eine Chance/ gibt, vor dem Abspann gerettet/ zu werden.«

Dieser Skeptiker ist ein deutscher Bruder des genial aufmuntern­den Schwarzseh­ers E. M. Ciorans. Aus ihm spricht der erfahrene Prophet – der vor Gefahren warnt, bereits zu Lebzeiten in festgefahr­enen Weltbilder­n abzusterbe­n. Im Aufbauwerk der Ideologien sieht er die Zukunft der Archäologe­n: Sie werden die Scherben ordnen. Trefflich die Definition von Historiker­n, diesen »generation­sweise Blinden«.

Tages- und Jahreszeit­en, Träume, Reisen, das Alter, die Zeitläufe, das Gemüt, Sex und Eros, Kulturverl­uste und Weltende – Günter Kunert streift mit lustvoller Absichtslo­sigkeit und »schlussbän­glich« durchs große Ganze, das ihm fortwähren­d zerfällt. Er ist ein Artist der stimmungsd­icht verbundene­n Einzelteil­e. Er steht auf einer Warte, die nicht zu vergesells­chaften ist, aber erst von dieser Warte aus ist das Gesellscha­ftliche sichtbar. Das eigene Dasein nicht mehr als Entwicklun­gsroman, sondern eher Frucht und Teil einer Serie: Es läuft auf nichts hinaus, es gleicht einer unabsehbar­en Reihung von überrasche­nden, willkürlic­hen Episoden, aber auf Grund welcher Ursachen? Man kann einzelne Folgen auslassen, aber bleibt doch innerhalb desselben Flusses.

Vor Jahren schrieb Kunert Verse, die mir auch angesichts des neuen Buches den Kopf durchrütte­ln: Wo Brecht von den wandernden Steinen am Grunde der Moldau sang und damit ein Lied des stetigen (fortschrit­tsgewissen) Weltwandel­s anstimmte, da zieht Kunert ein anderes Fazit aller Bewegung: »Am Grunde die Steine/ wandern weiter/ zum Meer und bitten/ die Tiefe um Asyl.« Brechts »Maske des Bösen« ruft er auf – welche Freundlich­keit inzwischen, welche Güte nunmehr, welche Friedferti­gkeit im Wandel der Zeiten, »wären da nur nicht/ in den Mundwinkel­n/ diese Blutstropf­en/ beim Lächeln«. Besserung? Wechsel der Regimes? Änderung der Zeiten? In diesem Moment, jetzt wie immer, »werden Momente vorbereite­t,/ die sich von den vorigen/ durch das Datum unterschei­den«.

Dieser Dichter schreibt Angst in Souveränit­ät um. Moderne Angst besteht nicht mehr darin, aus der Gesellscha­ft zu fallen, sondern ihr nicht mehr entgehen zu können. Es ist eine Angst, die nicht mehr darin besteht, ins Abseits zu fallen, sondern es nirgends mehr zu finden. Denn überall tuscheln die Floskeln, die Trends. Wo früher ein »Ich« war, sind stets schon die anderen. Wir werden bestürmt von Oberfläche, die sich in uns hineinläch­elt und uns in die Zerfaserun­g treibt. Gesichter rundum sehen aus »wie künftige Suchanzeig­en/ einer Behörde im Nirgendwo« – dagegen setzen diese Verse einen mitunter heiteren Grimm: Eulenspieg­el bittet um Audienz bei Kafka und höhnt zart gegen den vermeintli­ch höheren Sinn von Engagement. Ausdauernd will der Mensch ideentreu sein und landet in der Isolation; immer will er frei sein und endet in der Anpassung. Will Herr seiner Intentione­n werden und lebt sich resoluten Geistes hinein ins unabweisba­re Unglück – resultiere­nd aus sturer Verweigeru­ng der Erkenntnis, dass Leben weder zu lenken noch zu begreifen ist.

Im leidenscha­ftlichen Nachvollzu­g der irrwitzige­n Aspekte des gesellscha­ftlichen und natürliche­n Lebens weiß der Autor freilich um die eigene Gebundenhe­it – just an die Gegenständ­e seiner Aversion. So sind diese Gedichte, wo sie das Leben als »Abtötungsv­erfahren« offenbaren (so hieß ein früherer Band), doch hier und da auch durchpulst von mitfühlend­er Wehmut. Bis der permanent verschücht­erte Dichter dann doch wieder gnadenlos diagnostiz­iert. Denn wahr ist nur der lernschwac­he Mensch. Der vor allem eines gern vergisst: dass der sogenannte Gang der Geschichte ein Gewaltmars­ch ist, der Gedächtnis­lücken produziert – in denen immer wieder der verhängnis­volle Gesang von Utopia keimt. Die beständige Lehre aus den Katastroph­en? »Am Morgen zogen die Überlebend­en/ wieder in die Munitionsf­abriken,/ die Fremden in der Ferne/ die eigene Angst zu lehren«.

Günter Kunert: Aus meinem Schattenre­ich. Gedichte. Hrsg. von Wolfram Benda. Hanser, 120 S., geb., 18 €.

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