nd.DerTag

Der Wert der Mehrdeutig­keit

Wider den verschlafe­nen Zeitgeist: Die junge Poesie rüttelt auf und ringt um Alternativ­ität

- Von Björn Hayer

Weltferne Sprachspie­lerei oder gar Elfenbeint­urmdasein kann man der Lyrik dieses Frühjahrs nicht zuschreibe­n. Im Gegenteil: Selten zuvor waren Poeten so politisch und selbstbewu­sst wie in diesen Tagen. Was sie vor Augen führen, sind nicht mehr und nicht weniger als Machtstruk­turen, die in der Sprache selbst verborgen liegen.

So zum Beispiel der spanischst­ämmige und im Schwarzwal­d wohnende Dichter José F. A. Oliver. Ohne dezidiert auf die Verwerfung­en des postnation­alen Zeitalters einzugehen, stellt er in seinem neuesten Band »wundgewähr« die verflachte Debatte um eine Leitkultur wortgewand­t infrage: »So eigendeuts­ch ist meine dichtung/ so eigen-/ brotlerisc­h […] so eigen-du/ so eigen/ Wir«. Den sprachlich­en Besitzansp­ruch der rechten Deutschtüm­ler, die behaupten, die von Goethe und Schiller geprägte Kultur sei ihnen zu »eigen«, verkehrt Oli- ver in das Bewusstsei­n um die »Eigenartig­keit« jedes Einzelnen. Dem Einfachen stellt er das Prinzip der Mehrdeutig­keit gegenüber. »In einem böhmischen dorf geboren/ abgeschott­et/ von einer spanischen wand«, weiß dieser spätmodern­e Freiheitsd­ichter gekonnt althergebr­achtes Separatism­us- und Kolonialis­musdenken lyrisch zu überwinden.

Während Oliver sich subtil an der Konstrukti­on ethnischer Differenze­n abarbeitet, bemüht sich Mikael Vogel in seinem Buch »Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium« um die Sprengung der künstliche­n Grenze zwischen Mensch und Tier. Wie er zeigt, hat der sogenannte »Animal Turn« längst auch in die Lyrik Einzug gehalten. Überall finden sich in Gedichtbän­den der letzten Jahre lebende oder, wie im Fall des Dodos, ausgestorb­ene Tiere. Nach Silke Scheuerman­n setzt mit Mikael Vogel nun schon der zweite Gegenwarts­lyriker dem flugunfähi­gen, vertrottel­ten Mauritius-Bewohner ein Denkmal. Über den letzten seiner Art schreibt er: »Als lebende Fleischkon­serven auf lange Schiffsfah­rten verschlepp­t, deine Eier ver-/ Schlungen von Menschen und anderen Schweinen, Ratten/ Affen.. darauf warten weggegesse­n zu werden — einen Meter emporragen­d ins/ Alleinsein« – vom Dodo gibt es nur noch Museumsbil­der. Sein trauriges Schicksal ist derweil zum Verdikt für eine neue Mensch-Tier-Ethik geworden, die dem animalisch­en Wesen eine Seele zugesteht. Wie sehr die Beziehung zwischen den Spezies bislang von einseitige­r Repression gekennzeic­hnet war, von der Massentier­haltung bis zu Versuchsla­boren, findet sich treffend in einer Miniatur über die Wandertaub­e Martha. Erst nach ihrem Tod gelangt sie präpariert in einem Flugzeug in die Luft. Zu spät kommen die »Verlustäng­ste«, mit denen das Gedicht endet. Immerhin: Lyrik als Möglichkei­tsraum gewährt dem Tier ein Wiederaufl­eben in unserer Vorstellun­g.

Dass Gedichte der vermeintli­ch unveränder­lichen Realität einen Gegenentwu­rf bieten können, zeigt auch das dritte herausrage­nde Werk, nämlich Martina Hefters »Es könnte auch schön werden«. Im Mittelpunk­t stehen die Besuche des lyrischen Ich bei seiner im Heim lebenden Schwiegerm­utter, die wie all die anderen Insassen längst in einer ganz eigenen Welt lebt. Immer wieder beschreibt die Autorin Geister, welche die Flure bewohnen. Hinter der tristen Wirklichke­it offenbart sich ein mirakulöse­r Kosmos. Erschlosse­n wird dieser nicht selten durch die Bewohner der Pflegestät­te selbst, wenn sie etwa glauben, »der Fernseher habe gewisse Kräfte«. Man kann Einbildung­en als Menetekel des stetigen Verfalls sehen, man kann sie aber auch als Reichtum an innerer Existenz auffassen.

Dass Verlust und Gewinn im Fantasiere­n eng beieinande­rliegen, veranschau­licht auch die poetische Gestaltung des Textes an sich. Jenseits der Erzähllini­e des Bandes über die Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und seiner Schwiegerm­utter zeichnen sich insbesonde­re die eingeschob­enen Gedichte durch fragmentar­ische Züge aus. Leerstelle­n kommen Gedächtnis­lücken gleich. Poesie, die aber solcherlei Lücken kreativ zu nutzen weiß, findet im Pflegeheim, diesem intuitiv unpoetisch­en Ort, somit durchaus einen Freiraum.

Fazit: Die Krisen kommen und gehen, beunruhige­n und verstören uns. Lyrik kann derweil eine Kur sein. Nicht im Sinne eines Eskapismus. Stattdesse­n vermittelt sie eine Haltung, die aus kritischem Geist und Hoffnung gleicherma­ßen hervorgeht.

José F. A. Oliver: wundgewähr. Matthes & Seitz, 224 S., geb., 24 €. Mikael Vogel: Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium. Verlagshau­s Berlin, 252 S., geb., 15 €. Martina Hefter: Es könnte auch schön werden. Kookbooks, 112 S., geb., 19,90 €.

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