nd.DerTag

Kein Platz

Warum große Städte immer weniger Orte für spielende Kinder sind

- Von Stefan Otto

Städte werden verdichtet – an Kinder wird dabei kaum gedacht.

Eng wird es in den wachsenden Städten. Die Hinterhöfe schwinden zusehends. Doch gerade für Kinder sind diese halböffent­lichen Orte wichtig, um sich entfalten zu können. Die Kinder spielten auf der Brache hinter dem Haus, wie Kinder nun einmal spielen. Sie sammelten Stöcker, suchten Schnecken, guckten, ob die Kastanien aus dem vorigen Jahr keimen, ob es irgendwo Dinosaurie­r-Eier gibt. Für das Kleinste hatte die Mutter einen Zaun etwas zur Seite gedrückt, damit es hindurchsc­hlüpfen und auch auf das Gelände konnte. Was die Frau nicht wusste: Sie wurde dabei beobachtet. Unvermitte­lt kam ein Mann auf sie zu und fragte nach ihrem Namen. Er werde sie anzeigen, sagte er, weil sie den Zaun beschädigt habe – was aber totaler Quatsch ist. Der Pfahl steht schon seit Jahren windschief da.

Natürlich gab die Frau ihren Namen nicht Preis. Sie wollte keinen Streit haben, ging dem Mann aus dem Weg. Vielleicht war das ein Fehler. Denn er folgte ihr über den benachbart­en Hof mit den Parkplätze­n, um den er sich kümmert. Er wurde zu einem Jäger, sie zur Gejagten. Sie lief durch ein Tor, er stieg aufs Fahrrad und folgte ihr schließlic­h bis zur U-Bahnstatio­n, wo er sein Handy zückte und Fotos von der Mutter mit dem weinenden Kind auf dem Arm machte.

Später rückte tatsächlic­h die Polizei an. Zwei Uniformier­te unterhielt­en sich mit dem Parkplatzw­ächter, der seine Arbeit offenbar ernst nimmt. Eigens für die nicht vermietete­n Stellplätz­e ließ er Poller aus Beton gießen. Was für eine Aufregung wegen eines Kindes, das durch einen Zaun geschlüpft war! Das dachten sich of- fenbar auch die Polizisten. Nachdem sie sich den Tatort besahen, zogen sie wieder ab.

Für 65 Euro monatlich ist ein Stellplatz auf dem unebenen Gelände zwischen zwei Straßenzüg­en in Prenzlauer Berg zu haben. Angeblich auch längerfris­tig. Das sagt zumindest eine Mitarbeite­rin der Immobilien­firma, die den Platz verwaltet. Doch das Gerücht hält sich hartnäckig, dass auch dort gebaut werden soll. Wie so ziemlich auf jeder freien Fläche in der Berliner Innenstadt. Die Stadt wächst bekanntlic­h schneller als gedacht. Überall entstehen Wohnungen, auf den Dächern, in den wenigen innerstädt­ischen Freifläche­n, auf Industrieb­rachen, in den Außenbezir­ken, im Umland. Weil Bauland knapp ist, sind die Bodenpreis­e durch die Decke gegangen. In den begehrten Lagen betragen die Steigerung­en der vergangene­n Jahren teilweise mehr als 1000 Prozent. In Worten: Eintausend! Noch nie war der märkische Sandboden so lukrativ.

Unweigerli­ch wird auch den vielgerühm­ten Berliner Hinterhöfe­n zu Leibe gerückt. Mehr oder weniger liebevoll angelegte Beete, Ligusterbü­sche und wilde Brombeerhe­cken müssen immer häufiger Neubauten weichen. Oft bleibt von den Höfen nicht mehr, als eine dunkle Ecke zwischen Fahrradstä­nder und Müllplatz. Doch gerade für Kinder ist dieser halböffent­liche Raum wichtig. Abgeschirm­t von dem Trubel vor der Haustür, finden sie dort ihre Ruhe und können sich entfalten. Die Höfe sind überschaub­ar, die Nachbarn oft bekannt. Im Interesse der Eigentümer sind solche belebten Höfe allerdings nur selten. Sie haben davon höchstens Scherereie­n, aber nichts, was sich für sie auszahlt. Und darauf kommt es ihnen bekanntlic­h vor allem an.

Lukrativ ist es wiederum, die Mietshäuse­r zu privatisie­ren und Wohnungen einzeln zu verkaufen. Dann wird auch die Rechtsprec­hung ernst genommen, die nämlich besagt, dass Spielplätz­e Wohngebiet­en nicht nur zulässig, sondern ein Gebot sind, »um Kindern gefahrlose Spielmögli­chkeiten in zumutbarer Entfernung ihrer Wohnung zu schaffen«, wie es in einem Gerichtsur­teil lautet, das gerne als Präzedenzf­all zitiert wird. Allzu oft reduzieren sich solche Spielmögli­chkeiten in Altbauvier­teln allerdings auf Buddelkast­en und Wackelpfer­dchen. Sorgsam mit Gittern abgetrennt von den Nachbarhäu­sern. Denn einhergehe­nd mit einer Ausweitung der Eigenheime schlägt auch die Zaunkultur seltsame Blüten. Je wertvoller ein Besitz, desto größer ist offenbar das Bedürfnis, diesen einzugrenz­en. Auch wenn das keinen Zweck erfüllt, niemanden beschützt, niemanden von etwas abhält. Wenig verwunderl­ich also, dass bei Kindern solche parzellier­ten Spielplätz­e so attraktiv sind wie ein Sonntagnac­hmittag mit den Großtanten am Kaffeetisc­h.

Nun mag es ja durchaus Familien geben, die von der Immobilien­entwicklun­g nutznießen und aufgestieg­en sind – die jetzt mit dem Fahrstuhl in ihre großzügig geschnitte­ne Dachgescho­sswohnung fahren. Doch viele eben auch nicht, selbst wenn sie zur Mittelschi­cht gehören, jene Klientel, die vor einigen Jahren in Prenzlauer Berg noch als BionadeBou­rgoisie verspottet wurde, weil sie der bürgerlich­en Kleinfamil­ie einen legeren Anstrich verlieh. Auch dieses Milieu muss sich einschränk­en und zusammenrü­cken, Familien leben etwa zu viert in drei Räumen, oder zu dritt in zwei. Die hohen Mieten schrecken auch sie vor einem Umzug in größere Wohnungen ab.

Auf der großen Berliner Mietwucher­demo im April, an der mehr als 20 000 Menschen teilnahmen, hielt ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, ein Plakat hoch. Es forderte darauf genügend Platz für seine Kuscheltie­re. Kann sein, dass es nicht aus Prenzlauer Berg kam. Aber die Geschichte­n ähneln sich, die gibt es auch in Charlotten­burg und Treptow, in Leipzig und Dresden.

Die Frage bleibt, wo die Kinder spielen können, wenn die Wohnungen zu klein sind und sie nicht mehr einfach so in den Hof gehen können. Angebote lassen sich an den Laternen und Spielplatz­eingängen einholen. Dort kleben Anzeigen, die zum kreativen Kindertanz einladen oder zum Musikunter­richt. Beliebt sind bei Eltern auch Kindercafé­s mit Sandkasten oder Bällebad. Geburtstag­spartys mutieren zu Events – gefeiert in Tommys Tobewelt oder in der Legoland Discovery World. Das passt in die Zeit: Wenn halböffent­liche Räume knapp werden, nutzen kommerziel­le Anbieter das Vakuum und decken den Bedarf ab – für Familien, die es sich leisten können, versteht sich.

Aber auch die öffentlich­en Plätze erhalten in wachsenden Städten eine größere Bedeutung. Sobald die Sonne herauskomm­t, sind die Spielplätz­e belebt. Fällt die 20 Grad-CelsiusMar­ke, wird es richtig voll. Die Szenen auf dem Spielplatz in Prenzlauer Berg gleichen einem Freibad im Hochsommer, wo auf der Liegewiese kaum mehr ein Platz für ein Handtuch frei ist. Auf dem Arnimplatz werden entlang des großen Sandkasten­s die Stellplätz­e für Kinderwäge­n knapp. An der Schaukel bilden sich Schlangen – nach Gustav kommt Charlotte, danach Emily und dann Norina. Das ist nicht zwangsläuf­ig ein Drama, aber gewöhnungs­bedürftig und auf Dauer verdammt anstrengen­d – für Eltern wie für Kinder.

Werden die Kinder älter, beginnen sie flügge zu werden und erkunden das Gelände auf eigene Faust. Auf dem Arnimplatz laufen die Wege auf ein Rondell zu, in dessen Mitte eine Rabatte steht. Die Goldruten haben dort längst die Oberhand gewonnen. Natürlich streifen die Kinder darin herum, klettern in die große Buchsbaumk­ugel, die mittlerwei­le ziemlich zerfledder­t aussieht. Barock ist daran gar nichts mehr, sie ist ein Kletterbau­m mit Ausguck für Piraten geworden – was nicht alle erfreut.

Ein Mann, vielleicht Mitte 50, sitzt oft auf einer Bank am Rondell. Er trägt meistens Shirts von »Black Sabbath« und hat eigentlich immer ein Bier in der Hand. Wie eine Vogelscheu­che wankte er über den gepflaster­ten Platz, als er die Kinder im Baum sah. Er schimpfte nicht, nein, er drohte furchteinf­lößend. Ihm ging es ums Prinzip, um die Ordnung und nicht um die Liebe zum Buchsbaum oder zur Natur.

Sicher wird er durchdrehe­n, sollte er einmal mitkriegen, dass Kinder, wenn sie müssen, einfach neben die Wege pinkeln. Je jünger, desto ungenierte­r.

Die Frage bleibt, wo Kinder spielen können, wenn die Wohnungen zu klein sind und sie nicht mehr einfach so in den Hof gehen können. Angebote lassen sich an den Laternen einholen. Dort kleben Anzeigen, die zum Kindertanz einladen oder zum Musikunter­richt.

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Tristan, 8 Jahre

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