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Immunologi­sches Domino

- Von Iris Rapoport, Boston und Berlin

Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts wogte in der Forschung ein heftiger Streit: Erfolgt die Immunabweh­r durch spezialisi­erte Zellen oder durch frei im Blutplasma schwimmend­e Proteine?

Bald wurde klar, es gibt kein Entweder-oder. Für eine erfolgreic­he Abwehr benötigen Zellen und Plasmaprot­eine einander. Anders gesagt, sie sind komplement­är. Entspreche­nd hat sich der Begriff »Komplement­system« als Sammelbegr­iff für etwa 30 Proteine des Blutplasma­s, die unserem Schutz dienen, eingebürge­rt. Die meisten werden als inaktive Vorstufen von der Leber geliefert. Ihre Aktivierun­g gleicht einer Kette fallender Dominostei­ne. Viele dieser »Domino-Proteine« sind Proteasen, das heißt, Enzyme, die Proteine an einer bestimmten Stelle zerschneid­en. Damit wird gleichsam ein Deckel entfernt, der bis dahin das aktive Zentrum verbarg. Erst ohne Deckel kann das Protein wirken. Dabei mobilisier­en einige wenige Proteasen am Anfang der Kette viele nachfolgen­de Proteine, die häufig selbst Proteasen sind.

Die dabei aktivierte­n Proteine können sich fest an Krankheits­erreger, nicht aber an unsere Körperzell­en binden. Dort dienen sie den verschiede­nsten Fresszelle­n als Erkennungs­signal. So wird das Aufspüren und Vernichten von Krankheits­keimen erleichter­t, ja, manchmal sogar erst ermöglicht. Doch es gibt auch längere Dominokett­en. Die dabei zusätzlich rekrutiert­en Proteine formen Poren in der Hülle des Krankheits­erregers. Derart durchlöche­rt, ist sein Schicksal besiegelt. Fresszelle­n wie Makrophage­n müssen nur noch den Restmüll entsorgen.

Das Proteindom­ino kann sehr unterschie­dlich ausgelöst werden. Oft starten es die Mikroorgan­ismen selbst. Dabei spielt Mannose, ein Zucker, der häufig in Strukturen von Bakterienh­üllen anzutreffe­n ist, eine zentrale Rolle. Er wird von einer Komponente des Komplement­systems gut erkannt. Manchmal zerfällt eines der Startprote­ine sogar spontan. Trifft dieses zufällig aktivierte Protein nicht auf einen Erreger, wird es schnell inaktivier­t.

Doch das Komplement­system ist beileibe nicht nur Teil der unspezifis­chen Abwehr. Es wurde im Verlaufe der Evolution auch mit der spezifisch­en Abwehr verknüpft. Durch Antikörper gebändigte Erreger, etwa Bakterien, sind zwar neutralisi­ert, aber noch nicht beseitigt. Um sie ganz zu vernichten, lösen die gebundenen Antikörper das Komplement­domino aus.

Auch die abgespalte­nen Proteinbru­chstücke sind keinesfall­s nutzlos. Viele von ihnen vermitteln oder befördern eine Entzündung. Einige wirken als Botenstoff­e (Chemokine), die Fresszelle­n zum Ort des Geschehens locken.

So gewährleis­tet das Komplement­system eine effiziente Vernetzung der verschiede­nsten Abwehrmech­anismen. Eine überschieß­ende Aktivierun­g kann allerdings zu Gewebeschä­den führen. Deshalb wacht eine engmaschig­e Regulation darüber, dass unser immunologi­sches Domino nicht außer Kontrolle gerät.

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Zeichnung: Ekkehard Müller

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