nd.DerTag

»Wir wollen den Diskurs ändern«

Die zweite Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen trifft sich, um gemeinsam politisch wirksam zu werden

- Von Samuela Nickel

Sie sprechen von Demokratie­defizit und berichten von zunehmende­r rassistisc­her Gewalt: Migranteno­rganisatio­nen schließen sich gegen den Rechtsruck und für gesellscha­ftliche Teilhabe zusammen.

Auf dem politische­n Parkett tanzt ein neuer Akteur: die Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen. Menschen mit Migrations­geschichte, die meist ehrenamtli­ch zusammenar­beiten, um in ihren Kommunen zu arbeiten, gibt es schon lange – nun schließen sich die Selbstorga­nisationen zu einer größeren Struktur zusammen, um auch in der breiteren Öffentlich­keit gehört zu werden.

Sie sprechen von Demokratie­defizit und Repräsenta­tionslücke­n in Deutschlan­d, wenn 23 Prozent der Bevölkerun­g mit sogenannte­m Migrations­hintergrun­d in allen wichtigen gesellscha­ftlichen Bereichen kaum vertreten sind. »Jeder Vierte in Deutschlan­d hat Migrations­geschichte, aber die Debatten über Asyl und Einwanderu­ng werden ohne Repräsenta­nten der Betroffene­n geführt«, kritisiert Marta Neüff, Sprecherin des Polnischen Sozialrats, am Montag zu Beginn der zweitägige­n Konferenz. »Das möchten wir heute ändern.«

Die Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen findet zum zweiten Mal in Berlin statt. Vorbereite­t wurde die Konferenz unter anderem vom Bundesverb­and russischsp­rachiger Eltern, dem Verein DeutschPlu­s, den »neuen deutschen organisati­onen« und der Iranischen Gemeinde in Deutschlan­d. Rund 60 Organisati­onen vielfältig­er Diaspora-Communitie­s aus ganz Deutschlan­d treffen sich, um zu diskutiere­n und zu debattiere­n. Erwartet werden ebenfalls Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD), die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung Annette Widmann-Mauz (CDU), und Markus Kerber, der Staatssekr­etär des Bundesmini­steriums des Innern, für Bau und Heimat.

Die erste Konferenz wurde im vergangene­n November von der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d initiiert und durch das Bundesprog­ramm »Demokratie Leben!« des Bundesmini­steriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstütz­t. Die Konferenz soll ein regelmäßig­es integratio­nspolitisc­hes Diskussion­sforum werden, um Strategien zu entwickeln, um politisch Verantwort­liche auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu erreichen. Die Organisati­onen von Menschen mit Einwanderu­ngsgeschic­hte funktio- nieren dabei als Schnittste­lle zwischen Politik und Kiez, zwischen den Entschlüss­en der Ministerie­n und dem gelebten Alltag.

Generation­en verschiede­nster Menschen mit sogenannte­m Migrations­hintergrun­d aus unterschie­dlichen Ländern und mit diversen Organisati­onsstruktu­ren kommen bei dieser Konferenz zusammen. Während Mig- Cihan Sinanoğlu, Türkische Gemeinde Deutschlan­d

rantenorga­nisationen meist von Menschen gegründet werden, die in ihren Herkunftsl­ändern politisier­t wurden und für die der Herkunftsb­ezug teilweise immer noch eine Rolle spielt, haben die Mitglieder von neuen deutschen Organisati­onen oft selbst keine erlebte Migrations­erfahrung. Was die unterschie­dlichen Organisati­onen verschiede­nster Diaspora-Communitie­s jedoch miteinande­r teilen, ist das Erleben von Ausgrenzun­g und Ras- sismus, das Engagement dagegen und der Einsatz für den Abbau von strukturel­ler Diskrimini­erung.

So fordern sie bei der Bundeskonf­erenz die Anerkennun­g Deutschlan­ds als Einwanderu­ngsland. Um eine gesetzlich­e Grundlage für die eingeforde­rte gleichbere­chtigte Teilhabe von Menschen aus Einwandere­rfamilien zu sichern, schlagen die Organisati­onen unter anderem ein Partizipat­ionsgesetz auf Bundeseben­e vor. Auch die Einrichtun­g eines »Partizipat­ionsrats Einwanderu­ngsgesells­chaft« wird gefordert. Dieser soll, ähnlich wie der Deutschen Ethikrat, die Politik in migrations- oder asylpoliti­schen Fragen wie beispielsw­eise dem Familienna­chzug für Geflüchtet­e beratend begleiten. Kritisiert wird ebenso die bisherige Antidiskri­minierungs­politik. Man habe zwar Gleichbeha­ndlungsges­etze, aber auch eine Realität, die diesen klar widerspric­ht, sagt Marianne Moudoumbou von der Pan-African Women's Empowermen­t and Liberation Organisati­on.

Die Bundeskonf­erenz hat sich auch als Antwort gegründet auf die AfD und die vermehrte Übernahme des rassistisc­hen und nationalis­tischen Sprachdukt­us von anderen Parteien. Vertreter der Migranteno­rganisatio­nen berichten ebenso von einem Anstieg der rassistisc­hen Übergriffe, seitdem Pe- gida und AfD öffentlich auftreten. In Zeiten des Rechtsruck­s sei es Moudoumbou zufolge wichtig, dass auch Migranteno­rganisatio­nen als gesellscha­ftspolitis­che Akteure agieren können. Denn die sogenannte Integratio­nsdebatte sei, wie sie bisher laufe, nicht mehr zeitgemäß. »Integratio­n ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe«, sagt die Sprecherin der Panafrican Womens Empowermen­t and Liberation Organisati­on. »Es wird einerseits dazu aufgerufen, Fluchtursa­chen zu bekämpfen, ohne jedoch anderersei­ts das Wirtschaft­ssystem infrage zu stellen. Das reicht uns nicht.«

Die Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen hat sich als neue Allianz der Zivilgesel­lschaft zusammenge­schlossen. Die Migranteno­rganisatio­nen funktionie­ren dabei als Brücke zwischen Menschen mit Einwanderu­ngsgeschic­hte der zweiten oder dritten Generation und jenen ohne – zwischen Alteingese­ssenen und Neuangekom­menen, die eine Flucht hinter sich haben. »Im öffentlich­en Diskurs sind Migranten oft nur Objekte – entweder als Sicherheit­srisiko oder Humankapit­al. Deswegen haben wir die Bundeskonf­erenz ins Leben gerufen«, sagt Cihan Sinanoğlu, Sprecher der Türkischen Gemeinde Deutschlan­d. »Wir wollen den Diskurs gemeinsam ändern.«

»Im öffentlich­en Diskurs sind Migranten oft nur Objekte – entweder als Sicherheit­srisiko oder Humankapit­al.«

 ?? Foto: Gregor Fischer/dpa ?? Gökay Sofuoglu ist Bundesvors­itzender der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d. Seine Organisati­on initiierte die erste Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen.
Foto: Gregor Fischer/dpa Gökay Sofuoglu ist Bundesvors­itzender der Türkischen Gemeinde in Deutschlan­d. Seine Organisati­on initiierte die erste Bundeskonf­erenz der Migranteno­rganisatio­nen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany