In Kolumbien fehlt es an Friedenspädagogik
Die Ex-Guerillera und künftige Senatorin Victoria Sandino über revolutionären Kampf und parlamentarische Arbeit
Das Friedensabkommen hat der neugegründeten Partei FARC in den kommenden zwei Legislaturperioden jeweils fünf Sitze im Senat und in der Abgeordnetenkammer zugesichert. Im Juli werden Sie im Senat einen Sitz antreten. Welches ist Ihre politische Strategie für die kommende parlamentarische Arbeit?
Die neue Partei FARC (Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes, Anm. d. Red.) hat vor, jene Teile des Friedensvertrages zu verwirklichen, die immer noch nicht implementiert worden sind. Am Dringendste ist die »integrale Landreform«. Zu diesem Punkt hat die Regierung einen Gesetzesentwurf vorgeschlagen, der mit dem, was wir in Havanna vereinbart haben, nichts zu tun hat. Gewiss geht unsere parlamentarische Strategie über die Inhalte des Friedensvertrages hinaus. Ich persönlich werde eine politische Agenda für Frauen erarbeiten. Erfreulicherweise ist diese Agenda von der gesamten Partei bereits begrüßt worden. Die Zielsetzung meiner parlamentarischen Arbeit ist die Reformierung des Gesetzes 731 aus dem Jahr 2002. Dieses Gesetz steht für die Verbesserung der Lebensqualität der Frauen in ländlichen Gebieten Kolumbiens. Ebenfalls möchte ich das Gesetz 1413 aus dem Jahr 2010 umgestalten. Dieses Gesetz erkennt schon eine »Ökonomie der Pflege« bezüglich Hausarbeit und Pflege von Angehörigen an. In diesem Zusammenhang möchte ich aber zusätzlich ein landesweites »System der Ökonomie der Pflege« einführen. Die Idee ist, dass Frauen, die häusliche Arbeit, familiäre Betreuung und Pflege leisten, entlohnt werden können. Gleichzeitig streben wir an, eine effektive parlamentarische Kontrolle des Haushaltsplans und des Entwicklungsplans durchzuführen. Nicht zuletzt sind wir im Parlament, um jene Leute zu vertreten, die in abgelegenen Gebieten des Landes leben. Denen wollen wir Gehör verschaffen.
Die politische Transformation der FARC-Guerilla in eine politische Partei ist ein historisches Ereignis. Aber wie soll ich mir den persönlichen Transformationsprozess von Ihnen als FARC-Rebellin hin zu einer Senatorin vorstellen?
Diese Transformation von Victoria Sandino gibt es durchaus. Als wir in den Bergen waren, haben wir immer davon geträumt, wir werden eines Tages Frieden mit dem kolumbianischen Staat schließen. Nun, meine Entsendung zu den Friedensverhandlungen in Havanna hat mich da- mals selbst überrascht. Ich hatte niemals daran gedacht, dass ich eine Schlüsselrolle im Friedensprozess einnehmen könnte. Als ich im April 2013 der Verhandlungsdelegation in Havanna beigetreten bin, war ich alles andere als darauf vorbereitet. Es hat mich viel Mühe gekostet, politische Themen für eine Verhandlungsagenda zu formulieren. Danach musste ich den Unterausschuss Gender leiten. Ich musste mich über viele Themen informieren, in denen ich überhaupt nicht bewandert war. Au- ßerdem kannte ich, ehrlich gesagt, das Internet gar nicht. Als wir den Friedensvertrag unterzeichnet haben, dachte ich, ich kehre in unsere Territorien zurück, um produktive Projekte in Gang zu bringen. Aber nein. Bei der zehnten Konferenz der FARC bin ich informiert worden, dass ich die Guerilla im Ausschuss »Aufsicht, Impuls, Verifikation und Implementierung« vertreten werde. Also musste ich sozusagen während des laufenden Betriebes lernen, wie man Politik gestaltet. Schließlich, beim Gründungskongress unserer Partei stellte sich heraus, dass ich als eine der fünf Personen gewählt wurde, die die FARC im Senat vertreten werden. Alles in allem sah ich mich mit gigantischen Herausforderungen und radikalen Veränderungen konfrontiert.
Bei den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien hat es der progressive Kandidat Gustavo Petro (ehemaliger M-19-Guerillero), in die Stichwahl am 17. Juni geschafft. Er gilt als Außenseiter geen den rechten Iván Duque. Aber für den Fall eines Falles: Mit Petro als Präsident und der FARC-Partei im Parlament könnte doch tatsächlich von einem Wandel der traditionellen politischen Machtverhältnisse die Rede sein. Wie sehen Sie diese mögliche Zukunft Kolumbiens? Seit den Friedensgesprächen der 90er Jahre, als sich die Guerillas M19, Quintín Lame, EPL und Corriente de Renovación Socialista demobilisiert haben, gab es viele politische Szenarien, in die Ex-Rebellen eingebunden waren. Allerdings war bisher die Chance nie so groß, dass ein ehemaliges Guerilla-Mitglied Präsident des Landes wird. Das ist revolutionär genug. Gustavo Petro, der für mich übrigens kein Heiliger ist, ist ein konsequenter Mensch. Als Bürgermeister der Stadt Bogotá hat er brillante Arbeit geleistet. Und diese Arbeit genießt heute große Anerkennung in breiten Teilen der Bevölkerung. Das ist eine Visitenkarte, die kein anderer Kandidat hat. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass Petro an die Macht kommt. Das ist günstig für den Frieden und für die Demokratie Kolumbiens.
Die Unterzeichnung des Friedensabkommens 2016 ist ein historischer Schritt hin zu einer substanziellen Deeskalation. Jedoch weisen die Nichteinhaltung der Vereinbarungen und die wachsende Zahl von Morden an Menschenrechtlern in die entgegengesetzte Richtung. Wie lässt sich erklären, dass sich Teile der kolumbianischen Gesellschaft eher ablehnend gegenüber dem Frieden zeigen? Ein Außenstehender kann es unmöglich verstehen, dass es Menschen gibt, die gegen den Frieden sind. Sobald man aber die Gelegenheit hat, in die ganze Komplexität der kolumbianischen Gesellschaft einzudringen, versteht man, was eigentlich los ist. Die Skepsis ist einfach zu groß. Die Bevölkerung glaubt an fast nichts mehr. Für die Menschen in den abgelegenen Territorien sind die positiven Auswirkungen des Friedens begrenzt. Der Friedensvertrag beruhigt sie zum Teil, denn immerhin gibt es jetzt weniger Gewalt. Es war vonnöten, die Bombenangriffe zu stoppen. Aber anderseits bedeutet der Friedensvertrag auch, dass die FARC die Territorien verlassen musste. In diesem Moment stellt sich die ländliche Bevölkerung die Frage: Wer wird uns jetzt schützen? Für die Menschen in den Städten ist die Situation anders. Viele haben keinen existenzsichernden Lohn. Der Zugang zu einem guten Bildungsund Gesundheitssystem ist für viele fast unmöglich, kurzum: Sie haben keine Möglichkeiten. Der Friedensvertrag hat insofern keine wesentlichen Auswirkungen auf den Alltag dieser Menschen. Von welchem Frieden kann also bitte die Rede sein? Ich bin fest der Überzeugung, dass diesem Friedensprozess eine grundlegende Friedenspädagogik fehlte. Aber die Regierung und die herrschenden politischen Eliten haben es nicht gewollt. Die ganze Strategie der Regierung zielte auf die Abrüstung und Zerschlagung der FARC als Organisation ab. Das war ihre Friedensstrategie. Deswegen driftet die Gesellschaft weiterhin auseinander.