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Von Magdeburg nach Kassel und zurück

Der Band »documenta persönlich« erinnert auch an die erste Beteiligun­g von DDR-Künstlern an der Weltkunsts­chau

- Von Till Sailer Harald Kimpel (Hrsg.): documenta persönlich. Weitere Erinnerung­en an die Weltkunsta­usstellung­en. Jonas Verlag, 144 S., br., 20 €.

Der Kasseler Kunsthisto­riker Harald Kimpel hat ein Buch über die documenta herausgege­ben, das, so der Untertitel, »Weitere Erinnerung­en an die Weltkunsta­usstellung­en« zusammenfa­sst und angeblich »Alternativ­e Fakten« enthält. Die Publikatio­n »documenta persönlich« schließt an seinen 2012 veröffentl­ichten Band »documenta emotional« an und vereint »verstreute Reminiszen­zen« von meist weniger bekannten Zeitzeugen, seien es Künstler, Besucher oder Organisato­ren. Dabei ging es ausdrückli­ch um Vielfalt. Prominente Ausnahme ist der Künstler Günther Uecker.

Die Beiträge beziehen sich auf die documenta-Jahrgänge 1 (1955) bis 9 (1992). Sie sind vom Herausgebe­r mit teilweise umfangreic­hen Kommentare­n versehen und durch dokumenta- rische Fotos ergänzt. Mit elf Texten am stärksten vertreten ist die documenta 6 (1977). Es war der Jahrgang mit der ersten Beteiligun­g von DDR-Künstlern.

Die damalige Ausstellun­g wurde von dem Ostberline­r Kunsthisto­riker Lothar Lang (1928 – 2013) betreut, von dem zwei Beiträge abgedruckt sind. Der eine, nach einem Interview mit Sebastian Preuss 2002 in der »Berliner Zeitung« erschienen, trägt die launige Überschrif­t »Zum Erstaunen von Beuys kannte Tübke die aktuellste Hutmode«. Der andere, »Die Geschichte ist über diese Rankünen hinweggega­ngen«, entstammt Langs Erinnerung­sbuch »Ein Leben für die Kunst« (2009). Darin schilderte der Autor, wie es zu dem Auftrag kam, welche Brisanz die DDR-Beteiligun­g mit sich brachte und wie unterschie­dlich die Künstler von den Kollegen im Westen angenommen wurden. Dabei konnte er rufschädig­ende Angaben von Hannelore Offner in dem Buch »Eingegrenz­t – Ausgegrenz­t. Bildende Kunst und Parteiherr­schaft in der DDR 1961 – 1989« aus dem Jahr 2000 schlüssig widerlegen.

Die Kunsthisto­riker Wolfgang Hütt und Peter Michel wiederum berichten in ihren Beiträgen unabhängig von- einander, wie 1977 die Busreisen von Mitglieder­n des Verbands bildender Künstler vonstatten gingen, die an zwei Tagen jeweils vom Interhotel Magdeburg nach Kassel und zurück führten. Zu lesen sind weiterhin erhellende Ausführung­en von Jürgen Schweinebr­aden, der zur DDR-Zeit in Berlin-Prenzlauer Berg mit etwa 70 Ausstellun­gen eine illegale Galerie betrieben hatte und nach seiner Ausbürgeru­ng enger Mitarbeite­r von documenta-Chef Manfred Schneckenb­urger wurde. Sein Text »Interesse und Engagement als Grundlage, auf der Stress keine Chance hatte« beschäftig­t sich unter anderem mit dem Problem der Meinungsma­nipulation durch die Medien und des »Konsumismu­s im Kapitalism­us«.

Bei vielen Beiträgen, so der Herausgebe­r, handele es sich um Momentaufn­ahmen und Gedächtnis­fragmente »aus dem Geist der Anekdotik«. Es sei den Autoren bei dem zeitlichen Abstand vor allem um Atmosphäri­sches gegangen. Erahnen lässt sich das aus Überschrif­ten wie »Er hasst die Uniformen des üblichen Aufsichtsp­ersonals« von Hartmut Böhm, »Ich habe Walter De Maria das Biertrinke­n beigebrach­t« von HansJürgen Pickel oder Michael Preidels »Ich habe danach nie wieder eine Staeck-Postkarte angerührt«.

Dass »alternativ­e Fakten«, also Erlebnisse aus subjektive­r Sicht, nicht nur Hintergrün­diges und bislang Unbeachtet­es zutage fördern, sondern auch Zufälliges und Ungesicher­tes, begründet Harald Kimpel mit der Ungenauigk­eit des Gedächtnis­ses. Aber der Herausgebe­r ist davon überzeugt, dass manche empfundene Wahrheit mehr Wahres enthalten kann als manche wissenscha­ftliche Darstellun­g. Die Beiträge, schreibt er, »rütteln an den Toren, hinter denen die vergangene­n Ereignisse konservier­t werden«.

»Zum Erstaunen von Beuys kannte Tübke die aktuellste Hutmode.«

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