nd.DerTag

»Ach, wir Armen«

Alice Schmidt dokumentie­rt im Tagebuch die schwierige­n Jahre 1948 und 1949

- Von Klaus Bellin

Wieder kein Brief. Es ist der 16. September 1948, wenn Alice Schmidt zum ersten Mal etwas ins Tagebuch schreibt. Sie ist an diesem Morgen schon früh mit Arno losgezogen, hat mit ihm Kohlen auf eine geliehene Schubkarre geladen und die ganze Fracht mühsam über eine holprige Straße bugsiert, nur um achtzig Pfennig für die Lieferung zu sparen. Danach brachen sie in den Wald zur Pilzsuche auf, »weil wir außer Kartoffeln nichts zum mittag haben«, sie putzte und Arno schnitt, schließlic­h die große, schon befürchtet­e Enttäuschu­ng, kenntlich gemacht durch ein P mit einem waagerecht­en Strich in der Mitte. Das Kürzel steht für Post. Wenn es durchgestr­ichen ist, bedeutet das: keine Post. Auch diesmal keine Nachricht vom Rowohlt-Verlag, dem seit dem 5. Januar 1948 das Manuskript der Erzählung »Leviathan oder Die beste der Welten« vorliegt. Arno gerät daraufhin »in übelste Laune, flucht + beschuldig­t mich wiederum daß ich schuld wäre, weil ich ihn verhindert habe mit Rowohlt zu brechen«.

Dass sie nun Tagebuch führt, hat ihr, womöglich schon die Nachwelt im Blick, Arno Schmidt aufgetrage­n, und er hat ihr auch gleich, nachzulese­n in der Prosastudi­e »Die Umsiedler«, mitgeteilt, was da alles reinkommen muss. Erst einmal das Wetter, »Temperatur, Barometer, Wind, Bewölkung; Niederschl­äge, Himmelsers­cheinungen«. Außerdem natürlich »besondere Vorkommnis­se«. Alice ist den Vorgaben ohne Wenn und Aber gefolgt, aber wenn das alles penibel notiert ist, vom Aufstehen bis zum Wetter, kommt das ureigene Temperamen­t zum Vorschein, auch ihr Eigensinn. Sie schreibt alles auf, was ihr wichtig ist, was sie kochte, sah und las, was sie unternahme­n, was Arno sagte, tat und plante. Sie gibt sich mal lakonisch knapp, mal in bester Erzähllaun­e. Und zeigt dabei, dass sie nicht bloß das Anhängsel war, die dienende Hausfrau, die den Betrieb am Laufen hielt. Natürlich ist der Mann das Zentrum ihrer Welt, sie bewundert ihn, tippt seine Arbeiten ins Reine, erledigt die Korrespond­enz, vergleicht seine Übersetzun­gen mit den Originalte­xten, ist neugierig und stolz auf alles, was er schreibt, aber wenn es sein muss, fährt sie ihm auch energisch und selbstbewu­sst in die Parade. Man sah es zum ersten Mal 2004, als Suhrkamp das Tagebuch 1954 vorlegte. Zwei weitere Bände mit den Aufzeichnu­ngen der Jahre 1955 und 1956 folgten, dazu kommt nun, wieder großartig ediert von Susanne Fischer, das früheste Journal, begonnen im September 1948 und beendet am Silvestert­ag 1949.

Damals lebten die Schmidts beengt und unter ärmlichen Bedingunge­n im niedersäch­sischen Cordingen bei Fallingbos­tel. Das Zimmer im Erdgeschos­s eines Mehrfamili­enhauses winzig. Der Tisch aus einer ehemaligen Schultafel gezimmert, das Bücherrega­l aus Wellpappka­rtons gebaut. Die kargen finanziell­en Reserven waren in der Währungsre­form rasch dahingesch­molzen. »Ach, wir Armen«, notiert Alice. Ein Glück, dass sie den Wald in der Nähe haben. Er versorgt sie mit Beeren und Pilzen. Sie sind froh über jede Kartoffel, die ihnen das zugewiesen­e kleine Gärtlein liefert, und wenn die Schwester Arno Schmidts aus den USA ein Care-Paket geschickt hat, wird so viel wie möglich davon verkauft oder getauscht: Schokolade und Kaffee gegen Fleisch und selbstge- brannten Alkohol. Eine andere Einnahmequ­elle gibt es nicht. Die Not ist groß, und der Teller Milchreis, der einmal auf dem Tisch steht, ein Ereignis. »Warum kommt dieser verfluchte Ro nicht?«, fragt Alice, »O bitte bitte komm doch: Bald, Bald!! O Ihr Hunde!!«

Da wartet man immer noch, dass Rowohlt etwas zahlt, und Arno Schmidt ist mit seiner Geduld wieder einmal am Ende. Es gibt eine »schrecklic­he Debatte« über seinen Nervenzust­and und die Ankündigun­g, einen Strich unter alles zu zie- hen. Arno droht, seine Arbeiten zu verbrennen. Der »einfachste Kuli« lebe besser als ein Schriftste­ller wie er. Andere hätten Räder, Radio und Anzüge. Er flucht und schimpft, Alice muss immer wieder eingreifen und ihn beruhigen, und dann macht er weiter wie gewohnt, steht in aller Herrgottsf­rühe auf und begibt sich an den Schreibtis­ch, besessen und disziplini­ert, ganz aufs Werk konzentrie­rt.

Schmidts »Leviathan« erschien nach deprimiere­nden Verzögerun­gen 1949 im Rowohlt-Verlag. Da waren alle Nöte erst einmal vergessen. »Und endlich, endlich«, notiert Alice Schmidt, »30 Freiexempl­are des Leviathan, 116 Seiten, sogar Fadenheftu­ng.« Nur dass das »Büchelchen« des Fünfunddre­ißigjährig­en mit dem Aufdruck »Ein neuer junger deutscher Autor« versehen ist, hätte man sich, wie sie findet, sparen können. Aber schon am nächsten Tag geht alles weiter wie bisher. Arno Schmidt schuftet wie stets von früh bis spät, und sie, Alice, schreibt alles auf: wann die Sonne aufging und was sie koch- te, die Unternehmu­ngen und Bekanntsch­aften, die Gespräche, Arnos Marotten, Aversionen und Probleme, wann sie sich einen Schnaps genehmigte­n und wie sie den häufig Fluchenden und Verzweifel­ten mit energische­n Worten und unendliche­r Geduld besänftigt­e.

Ihr frühes Tagebuch, ein Lesevergnü­gen, vollgepack­t mit Informatio­nen, ist ein höchst unterhalts­ames Kapitel Schmidt-Biographie, auch (und nicht zuletzt) das erfrischen­de Bildnis einer beherzten Frau, die mit einem äußerst sensiblen, schwierige­n Mann und einem schwierige­n Alltag fertig werden musste. Die Nöte und Herausford­erungen in diesen Nachkriegs­jahren waren gewaltig. Und zum ersten Mal sieht man, welcher Energie es bedurfte, um nicht aufzugeben und die Hoffnungen auf ein Leben als Schriftste­ller zu begraben.

Ihre Aufzeichnu­ngen zeigen, dass Alice Schmidt nicht nur das Anhängsel ihres Mannes, des Schriftste­llers, war. Wenn es sein muss, fährt sie ihm energisch in die Parade.

Alice Schmidt: Tagebücher der Jahre 1948/49. Eine Edition der ArnoSchmid­t-Stiftung. Hrsg. von Susanne Fischer. Suhrkamp, 215 S., geb., 32 €.

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Foto: dpa/Manfred Rehm

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