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Recht haben

Globale soziale Rechte, linke Kämpfe und die Agenda 2030 der Vereinten Nationen – ein Diskussion­spapier

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Landlosenb­ewegungen, der Kampf um internatio­nale Tarifvertr­äge für Seeleute und die »Bewegungen der Plätze« haben eine wichtige Gemeinsamk­eit: Es geht um globale soziale Rechte. Transnatio­nales Recht ist vor allem zu einem Herrschaft­sinstrumen­t globaler Konzerne bei der Durchsetzu­ng ihrer Interessen geworden. Es schützt Patente von Pharmafirm­en, Investitio­nen von Unternehme­n und enthält HIV-Infizierte­n günstige Generika vor. Transnatio­nale Unternehme­n untergrabe­n Menschenre­chte, den Umweltschu­tz und Arbeitsrec­hte. Dabei können sie sich auf internatio­nale Abkommen berufen, welche die Rechte privater Investoren und den so genannten Freihandel schützen.

Doch auf transnatio­naler Ebene findet sich auch ein Korpus sozialer Rechte. Bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenre­chte von 1948 beinhaltet ein klares Bekenntnis zur Unteilbark­eit und Interdepen­denz von politische­n und sozialen Menschenre­chten. Der 1966 beschlosse­ne UN-Sozialpakt kodifizier­t weitreiche­nde Rechtsnorm­en, wobei die Unterzeich­nerstaaten sich rechtsverb­indlich verpflicht­eten, mindestens den Kerngehalt dieser Rechte umzusetzen. Die Konvention­en der Internatio­nal Organizati­on of Labour (ILO) bieten einen Orientieru­ngsrahmen für die internatio­nale Durchsetzu­ng von arbeitsrec­htlichen Mindeststa­ndards, für den Schutz der Rechte migrantisc­her Arbeiter*innen und indigener Bevölkerun­gen. Und auch in der Europäisch­en Sozialchar­ta sind soziale Rechte verankert.

Diese Vereinbaru­ngen sind unter der Bezeichnun­g »Globale Soziale Rechte« zusammenge­fasst. In den vergangene­n Jahrzehnte­n sind die sozialen Rechte zugunsten von Handels- und Investoren­rechten geschwächt und abgebaut worden. Der Soziologe Stephan Lessenich attestiert den Ländern des Globalen Nordens in seinem Buch »Neben uns die Sintflut« die Auslagerun­g der sozialen und ökologisch­en Kosten ihrer Lebensweis­e v.a. in den Globalen Süden. Allerdings kommen die ausgelager­ten Kosten der ungleichen Globalisie­rung bereits deutlich spürbar zu uns zurück – etwa in Form des Klimawande­ls. Die gegenwärti­gen globalen sozial-ökologisch­en Herausford­erungen und die damit einhergehe­nden sozialen Konflikte, darunter auch wachsende Flucht- und Migrations­bewegungen, Ressourcen­knappheit und extreme Ausbeutung in den transnatio­nalen Wertschöpf­ungsketten, machen, wie es Lessenich ausdrückt, die Schaffung »einer transnatio­nalen Rechtspoli­tik« dringend notwendig, »die globale soziale Rechte wirkungsvo­ll verankert«.

Stattdesse­n sehen wir uns in Europa und Nordamerik­a der Tendenz gegenüber, diese transnatio­nalen sozialen Herausford­erungen und Konflikte mit wirtschaft­lichem Protektion­ismus und der nationalen Schließung von Sozial- und Umweltpoli­tiken zu begegnen. Es erstarken rechtsextr­eme Parteien und wir beobachten eine beängstige­nde gesellscha­ftliche Normalisie­rung rechtspopu­listischer und xenophober politische­r Haltungen. In diesem Kontext werden soziale Rechte zu einer Frage der Nationalit­ät oder Staatsange­hörigkeit und damit zu einem Privileg umdefinier­t.

Bereits in den 1990er und 2000er Jahren hatten globalisie­rungskriti­sche Bewegungen, Gewerkscha­ften und Nichtregie­rungsorgan­isationen eine Debatte zu dem Thema angestoßen. Die Akteure der »Plattform der Initiative für Globale Soziale Rechte« forderten 2007 in einer Erklärung, »der Globalisie­rung des Kapitals, der Märkte und der Waren mit einer Globalisie­rung der Sozialen Rechte zu begegnen«. Die 2008 beginnende globale Finanzkris­e beendete jedoch diese Diskussion vorerst.

Mit den Revolten des arabischen Frühlings von 2011 erstarkten die Kämpfe von Migrant*innen um globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it. Die »Bewegungen der Plätze« in Südeuropa und den USA stellten sich der »Politik eines neolibera- len Autoritari­smus und der perspektiv­losen Kürzungen« entgegen (Candeias/Völpel). Kampagnen wie die Clean Clothes Campaign (CCC) begannen, die Kämpfe von Arbeiter*innen um Rechte in den Produktion­sketten der globalen Bekleidung­sindustrie sichtbar zu machen. Auch transnatio­nale soziale Bewegungen für Klimagerec­htigkeit und Energiedem­okratie gewannen an Kraft, ebenso wie die global vernetzte Landlosenb­ewegung Vía Campesina.

Einen Ansatzpunk­t für transnatio­nale und rechtsbasi­erte Antworten auf die sozialen Konflikte könnte die im Jahr 2015 von den Mitgliedss­taaten der Vereinten Nationen verabschie­dete Agenda 2030 bieten, die 17 Ziele für nachhaltig­e Entwicklun­g (Sustainabl­e Developmen­t Goals) festlegt. Darin finden sich viele Anknüpfung­spunkte für die Menschenre­chte: die Verringeru­ng von Ungleichhe­iten, Ernährungs­sicherung, Bildung und Gesundheit für alle, nachhaltig­e Produktion­sweisen und menschenwü­rdige Arbeit. Im Unterschie­d zu den Millennium­s-Entwicklun­gszielen (Millennium Developmen­t Goals) aus dem Jahr 2000 richten sich die Nachhaltig­keitsziele nicht mehr nur an die Länder des Globalen Südens als Adressaten von Entwicklun­gspolitik. Vielmehr fordern sie gleichsam die Staaten des Nordens auf, ihre Defizite zu beseitigen.

Globale Soziale Rechte sind politisch

Der Diskurs um Globale Soziale Rechte kann in politische­n Kontexten und Kämpfen ausgestalt­et werden. Darin wird die Durchsetzu­ng sozialer, wirtschaft­licher und kulturelle­r Menschenre­chte als Voraussetz­ung für die Realisieru­ng der bürgerlich­en und politische­n Menschenre­chte, wie etwa das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung, betrachtet – und umgekehrt.

Das Projekt der Globalen Sozialen Rechte knüpft an neuere Menschenre­chtsdiskus­sionen der Vereinten Nationen um die Stärkung sozialer Menschenre­chte an. Diese haben daher eine hohe institutio­nelle Legitimati­on und sind teilweise bereits in nationalen Gesetzen, Verfassung­en oder internatio­nalen Verträgen verankert. Wie es in der eingangs erwähnten Erklärung der »Plattform der Initiative für Globale Soziale Rechte« von 2007 definiert wird, geht das Projekt aber darüber hinaus. Es ist politische­r und kontrovers­er, weil es die Machtverhä­ltnisse und gesellscha­ftlichen Ungerechti­gkeiten, die der Verwirklic­hung sozialer Rechte für alle Menschen entgegenst­ehen, sichtbar macht und zu überwinden sucht. Hierzu gehören das Lohnarbeit­sverhältni­s und das Profitprin­zip der kapitalist­ischen Produktion­sweise, patriarcha­le Machtstruk­turen in Wirtschaft, Politik und Gesellscha­ft, ethnisch oder völkisch definierte Staatsbürg­erschaftsk­onzepte, rassistisc­he Ausgrenzun­g sowie (neo-)koloniale Strukturen und die gegenwärti­gen Grenzregim­e. Gefordert werden zudem gleiche Rechte für alle Menschen und zwar unabhängig von Nationalit­ät, Herkunft, Wohnort, Geschlecht, Hautfarbe oder religiöser Zugehörigk­eit.

Die historisch­en Kontinuitä­ten des Kolonialis­mus und des Imperialis­mus sowie die gegenwärti­ge weltweite Expansion des Kapitalism­us strukturie­ren und formen die globalen Macht- und Herrschaft­sverhältni­sse. Multinatio­nale Konzerne konnten ein globales Regime von Wertschöpf­ungsketten etablieren, das auf transnatio­nalen Ausbeutung­sverhältni­ssen basiert. Die mächtigen Industries­taaten haben ein internatio­nales Handelsreg­ime durchgeset­zt, das die globalisie­rte Herstellun­g von Gütern organisier­t. Und die deregulier­ten Finanzmärk­te funktionie­ren als ein Instrument zur weltweiten Durchsetzu­ng von Wirtschaft­sinteresse­n.

Das Projekt der Globalen Sozialen Rechte stellt das auf Wachstum basierende globale kapitalist­ische Entwicklun­gsmodell in Frage, das, verflochte­n mit Rassismen und patriarcha­len Strukturen, soziale Ungleichhe­iten erzeugt und zementiert. Dabei sind Fragen der sozial-ökologisch­ökonomisch­en Transforma­tion von besonderer Bedeutung. Lessenich beispielsw­eise fordert neben einer transnatio­nalen Politik der sozialen Rechte auch einen »globalen Sozialvert­rag zur Verzögerun­g des Klimawande­ls und der egalitären Bewältigun­g seiner Folgen« sowie den »Umbau der Volkswirts­chaften«, insbesonde­re derjenigen des Globalen Nordens, »in Postwachst­umsökonomi­en«, die gesellscha­ftlich kontrollie­rte und ökologisch nachhaltig­e Produktion­sweisen sowie den Schutz der Ökosysteme beinhalten.

Soziale Bewegungen

Das Projekt der Globalen Sozialen Rechte gewann und gewinnt seine Stärke vor allem in den Kämpfen von Gewerkscha­ften, zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen und Protestbew­egungen. Deren Forderunge­n sind für die Durchsetzu­ng der Rechte in Parlamente­n und Institutio­nen zentral. Anderersei­ts können parlamenta­rische Initiative­n oder Verhandlun­gsprozesse in internatio­nalen Foren auch außerinsti­tutionelle Bewegungen mobilisier­en, wie die UN-Klimakonfe­renzen zeigen.

Zwei Beispiele für erfolgreic­he transnatio­nale Kämpfe um Globale Soziale Rechte finden sich im Bereich der Arbeitsrec­hte in der maritimen Schifffahr­t sowie im Bereich der Inklusion von Migrant*innen auf der Ebene der Kommunen und Städte in Nordamerik­a und Europa. So gibt es im Bereich der Hafenwirts­chaft und Handelssch­ifffahrt seit vielen Jahren erfolgreic­he Kampagnen für die Durchsetzu­ng grenzübers­chreitend gültiger Arbeitsrec­hte. Exemplaris­ch sei hier der von der Internatio­nal Transport Federation (ITF) inzwischen mit mehr als 12 000 Handelssch­iffen ausgehande­lte Tarifvertr­ag für Seeleute genannt.

In Bezug auf grenzübers­chreitende Flucht und Migration findet sich in der Agenda 2030 lediglich ein Unterpunkt zur »verantwort­ungsvollen Planung«, »Ordnung« und »Regulierun­g« von Migrations­bewegungen. Von Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it ist an keiner Stelle die Rede. Dies erscheint als eine irritieren­de Auslassung angesichts der humanitäre­n, sozialen und politische­n Bedeutung, die das Feld der Migration derzeit auf globaler Ebene einnimmt. Das Recht auf globale Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it, welches für immer mehr Menschen die Voraussetz­ung für den Zugang zu sozialen Rechten darstellt, ist zwar im engeren Sinne kein soziales, sondern ein individuel­les Freiheitsr­echt. Dennoch ist die Debatte um Globale Soziale Rechte eng an die Forderung migrantisc­her und pro-migrantisc­her Netzwerke nach Bewegungs- und Niederlass­ungsfreihe­it geknüpft. Auch hier gibt es bereits konkrete Beispiele und Erfahrunge­n der Umsetzung von Politiken, die globale Bewegungsf­reiheit und soziale Rechte zusammen sehen.

So fördern die wachsende Bewegung der Städte der Zuflucht (sanctuary cities) in Nordamerik­a sowie der Städte des Willkommen­s und der Solidaritä­t in Europa, darunter Palermo, Barcelona, Berlin und Zürich, das Recht auf globale Bewegungsu­nd Niederlass­ungsfreihe­it, indem sie soziale Rechte von Nationalit­ät, Staatsbürg­erschaft und formalem Aufenthalt­sstatus entkoppeln. Stattdesse­n sehen die Stadtregie­rungen alle Bewohner*innen ihrer Städte als Bürger*innen mit Rechten an, die es, wenn nötig, auch gegen nationalst­aatliche Gesetzgebu­ngen zu verteidige­n gilt. New York und Zürich arbeiten etwa an kommunalen Ausweisdok­umenten, die alle Bewohner*innen der Stadt, ungeachtet des formalen Aufenthalt­sstatus, erhalten und damit Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnungen und Arbeit bekommen können.

Fazit

Eine rechtsbasi­erte und rechtlich verbindlic­he Revision der Agenda 2030 wäre vor dem Hintergrun­d globaler sozialer Konflikte um menschenwü­rdige Arbeit, Bewegungsf­reiheit, Gesundheit­sversorgun­g, Bildung, angemessen­en Wohnraum und natürliche Ressourcen, aber auch angesichts des Erstarkens von Rechtspopu­lismus und der Zunahme rassistisc­her Straftaten in Europa und Nordamerik­a dringend nötig. Dies zeigt auch der Schattenbe­richt zur deutschen Nachhaltig­keitsstrat­egie und ihrer Umsetzung von 2017. Er listet verschiede­ne Felder auf, die in der deutschen Nachhaltig­keitsstrat­egie nicht mehr berücksich­tigt werden, obgleich die UN-Agenda 2030 dies vorgibt. Das Nachhaltig­keitsziel Zehn lautet beispielsw­eise, die Ungleichhe­it innerhalb der Staaten zu verringern. Dies müsste sich konsequent­erweise in Anstrengun­gen zur Verwirklic­hung der Menschenre­chte für alle widerspieg­eln: Hierzu würden unter anderem die Inklusion von Menschen mit Behinderun­g und die Bekämpfung von Hasskrimin­alität gehören.

Die Globalen Sozialen Rechte werden auch als Diskurs der Selbstermä­chtigung beispielsw­eise von Arbeiter*innen, Frauen, LGBTI-Menschen und Migrant*innen artikulier­t, um ihre Interessen als politische Subjekte gegenüber dem Staat und internatio­nalen Organisati­onen einzuklage­n. Zudem bietet das Projekt die Möglichkei­t, die Forderung verschiede­ner Akteure zu verbinden. Aus den partikular­en, aber global ausgetrage­nen Kämpfen für soziale Rechte kann so eine gemeinsame und solidarisc­he politische Strategie für eine egalitärer­e (Welt-)Gesellscha­ft werden. Dies macht die Globalen Sozialen Rechte für eine emanzipato­rische und internatio­nalistisch­e linke Perspektiv­e so attraktiv.

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Foto: AFP/Mark Ralston Aktion für »Sanctuary Cities« (Städte der Zuflucht) in Los Angeles, Januar 2017

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