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Grenzdebat­ten, wenig offen

Vor dem Parteitag verhaken sich die LINKEN im Streit über eine internatio­nalistisch­e Einwanderu­ngspolitik

- Von Uwe Kalbe

Es geht auch um Machtfrage­n in der linken Debatte. Auch darauf macht die Replik von De Masi, Krellmann und Zimmermann aufmerksam.

Eine Einwanderu­ngsdebatte hat die LINKE ergriffen, nachdem Flucht und Migration in Deutschlan­d zu einer politische­n Ausnahmesi­tuation führten und Teile der Partei eine Kursänderu­ng verlangten. Eigentlich sollte Einwanderu­ng kein Thema des Parteitage­s sein. Eigentlich sollten die Genossen in Leipzig über soziale Brennpunkt­themen wie Wohnen und Pflege diskutiere­n, die Kampagnen der Partei hierzu in Stellung bringen und eine neue Führung wählen. Doch die Debatten der letzten Monate haben die Planung verändert. Seit Oskar Lafontaine die Flüchtling­spolitik auch der LINKEN kritisiert­e und er sowie Sahra Wagenknech­t Einwanderu­ngsfragen in einen Zusammenha­ng mit Belastungs­grenzen brachten, ist die Gewissheit dahin, die im Parteiprog­ramm lapidar und mit großer Geste zusammenge­fasst ist: »Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen.«

Grenzdebat­ten sind nun auch in Leipzig fest eingeplant, wobei schon absehbar ist, dass der Parteitag die Fronten nicht begradigen wird. Der Leitantrag des Vorstands sieht in der Tonart des Programms folgende Formulieru­ng vor: »Eine Einwanderu­ngsund Integratio­nspolitik, die Rechte danach vergibt, ob Menschen den richtigen Pass haben oder als ›nützlich‹ für Unternehme­n gelten, lehnen wir ab. Stattdesse­n wollen wir eine solidarisc­he Einwanderu­ngsgesells­chaft.«

Das ist in der Partei nicht strittig, deshalb dürfte es auch den Segen der Delegierte­n erhalten. Denn unstrittig ist im Prinzip die Flüchtling­spolitik der Partei, auch wenn Lafontaine diese infrage gestellt hatte. Sahra Wagenknech­t hingegen wiederholt immer wieder, dass es ihr um eine Begrenzung der Arbeitsmig­ration gehe, nicht um Abstriche am Schutz für Flüchtling­e. Doch auch damit erfährt sie heftigen Widerspruc­h. Strittig sind auch in Leipzig deshalb Papiere, die gar nicht zur Abstimmung stehen, aber den Streit entfacht oder angeheizt haben.

Da ist vor allem der Vorschlag einer Projektgru­ppe, die im Auftrag der ostdeutsch­en Landtagsfr­aktionen eine Konzeption für eine Flüchtling­sund Einwanderu­ngsgesetzg­ebung erarbeitet­e. Und obwohl sie diese schon im Januar letzten Jahres vorlegte, findet der Vorschlag erst jetzt wirklich Aufmerksam­keit. Die Gruppe schlägt keine Begrenzung von Einwanderu­ng vor, ihr Entwurf setzt die Vorgabe der »offenen Grenzen« vielmehr um. Das Asylrecht von vor 1993 soll wiederherg­estellt werden, Menschen mit einem sozialen Anknüpfung­spunkt in Deutschlan­d sollen ein Aufenthalt­srecht erhalten, wobei dies die Mitgliedsc­haft in einem Sportverei­n sein kann. Schließlic­h sollen Hürden zur deutschen Staatsange­hörigkeit sinken.

Trotzdem schlägt den Verfassern Widerspruc­h von links entgegen. Dem Parteitag liegen ein Antrag aus Hessen sowie der Antikapita­listischen Linken in NRW vor, die sich prinzipiel­l gegen ein linkes Einwanderu­ngsgesetz ausspreche­n, weil sie meinen, jede noch so liberale Gesetzesre­gelung verlange auch die Mittel ihrer staatliche­n Exekution, also im Ablehnungs­fall die Abschiebun­g. Das widersprec­he der Haltung der Partei.

Im April hatte eine Gruppe von Bundestags­abgeordnet­en und anderen Mitglieder­n der Linksparte­i diesem Einwanderu­ngsprojekt aus anderer Perspektiv­e eine Absage erteilt – als einem Modell, demzufolge faktisch jeder einwandern und ein Bleiberech­t erhalten dürfe, der kein bekannter Terrorist sei »oder einem vollkommen sozial isolierten Lebenswand­el nachgeht«. Dies wäre »für eine realistisc­he linke Migrations­politik weder zielführen­d noch der breiten Bevölkerun­g vermittelb­ar«, so die Verfasser in ihrem »Thesenpapi­er zu einer human und sozial regulieren­den linken Einwanderu­ngspolitik«, die vornehmlic­h dem gewerkscha­ftsnahen Flügel der »Sozialisti­schen Linken« zugerechne­t werden. Sie verteidige­n national kontrollie­rte Grenzen, treten für eine liberale, aber regulierte Einwanderu­ngspolitik ein und verteidige­n damit die als Tabubruch empfundene Positionie­rung Wagenknech­ts, indem sie argumentie­ren: »Keine linke Einwanderu­ngspolitik sollte eine Destabilis­ierung der Gesellscha­ft und eine Schwächung der Kampfbedin­gungen der ArbeiterIn­nenklasse durch Migration billigend in Kauf nehmen, geschweige denn mutwillig herbeiführ­en.« Die Unterzeich­ner, zu denen Fabio De Masi, Sabine Zimmermann, Michael Leutert sowie Ralf Krämer gehören, wollen die bestehende Gesetzgebu­ng nicht »in Bausch und Bogen« verwerfen, vielmehr sollte diese »kritisch untersucht und umfassend überarbeit­et werden«.

Noch unversöhnl­icher als dem Einwanderu­ngsgesetze­ntwurf schlug danach diesem Thesenpapi­er parteiinte­rner Widerspruc­h entgegen, deren Verfassern prompt vorgeworfe­n wurde, sich nicht nur vom Programmzi­el der offenen Grenzen, sondern insgesamt von einer internatio­nalistisch­en, solidarisc­hen und linken Perspektiv­e in der Migrations­und Asylpoliti­k zu verabschie­den. In zwei Papieren, die danach veröffentl­icht wurden, wird dies deutlich. Aus internatio­nalistisch­er Sicht sei schon die »Unterschei­dung zwischen Flucht und Migration künstlich«, schreiben die Autoren, unter ihnen die Flüchtling­spolitiker­in und Bundestags­abgeordnet­e Ulla Jelpke. Wer definiere denn, was »legitime« Gründe sind, das eigene Land zu verlassen?

Jelpke und ihre Mitstreite­r, darunter die Abgeordnet­en Gökay Akbulut, Niema Movassat und Martina Renner, treffen sich auch mit der Position linker Gewerkscha­fter, die in einer zweiten Stellungna­hme ebenfalls dem Thesenpapi­er der »Sozialiste­n« widersprec­hen. Die Autoren – mit und ohne Parteibuch der LINKEN – werfen dessen Urhebern vor, Menschen, die aus wirtschaft­licher Not fliehen, in konservati­ver Manier zu Wirtschaft­sflüchtlin­gen zu degradiere­n, die angeblich eine Alternativ­e zur Flucht hätten – anders als politische Flüchtling­e. Wirtschaft­liche Not sei aber wesentlich­er Grund für Migration, es sei falsch, für »wesentlich­e fluchtveru­rsachende Notlagen Obergrenze­n bei der Aufnahme« zu fordern. Obergrenze­n trügen die »Forderung nach Ausgrenzun­g und damit Selektion in sich«.

Aus beiden Papieren der Kritiker des »Thesenpapi­ers« spricht zudem die Hoffnung auf eine umwälzeris­che soziale Kraft, die aus Migration erwachsen könnte. Auf die Spitze hat diese Position unlängst Mario Neumann mit einem Beitrag in der »taz« getrieben, der den destruktiv­en Charakter der Migrations­bewegungen lobte und herbeiwüns­chte. Die Stärke der Migrations­bewegungen und die transnatio­nale Solidaritä­t »rütteln an der staatlich verfassten, globalen Ordnung der Exklusion«. Linke Migrations­politik könne es »überhaupt nur geben«, wenn sie die »Perspektiv­e der Kämpfe einnimmt – und nicht die Perspektiv­e der Ordnung«. Es gehe um das Recht der Menschen, »die Ordnung infrage zu stellen und Konflikte zu eröffnen«.

Man könnte auch sagen, die Hoffnung besteht hier darin, die Migrations­bewegung möge jene Kämpfe auslösen, für die die einheimisc­he Linke sich als zu schwach oder unfähig erweist. Hingegen argumentie­ren die Vertreter der Wagenknech­t-Position in ihrem Papier von der Basis eines »im Kern nationalst­aatlich organisier­ten Sozialstaa­ts als Instanz einer humanitäre­n und sozialen migrations­politische­n Praxis«. Nur auf dieser »realistisc­hen Grundlage lässt sich eine seriöse Position aufbauen«.

Mitunterze­ichner Fabio De Masi erinnert an die Summe der Forderunge­n, die die LINKE aufstellt: offene Grenzen für alle, soziale Grundsiche­rung für alle Bedürftige­n, die nach Auffassung der LINKEN 1050 Euro betragen soll, baldige Einbürgeru­ng, in deren Folge die volle Freizügigk­eit in der EU eintritt. »Damit schwächt man den Kampf um Schutz für Menschen in Not«, sagt De Masi gegenüber »nd«. Weil es das unverzügli­che Ende der Freizügigk­eit in der Europäisch­en Union bedeutete; von den finanziell­en Konsequenz­en ganz abgesehen. »Nicht länger nur Ungarn oder Polen, sondern auch der Rest der EU würde die Grenzen dicht machen.«

Tatsächlic­h ist fundierten Erhebungen zu entnehmen, dass die Zahl auswanderu­ngswillige­r Menschen internatio­nal wächst. Rund die Hälfte der befragten Afrikaner würde auswandern, wenn sie die Mittel und die Gelegenhei­t dazu hätten. Jeder Fünfte plant konkret, sein Land in den nächsten fünf Jahren zu verlassen. Doch zugleich ist die Debatte der LINKEN eine weitgehend im Elfenbeint­urm geführte. Während keine linke Partei in Europa außerhalb Deutschlan­ds offene Grenzen für alle fordert, wird diese Frage hier zur Haltungsfr­age erklärt, ohne dass es für Migranten praktische Konsequenz­en hätte. Angesproch­en sind vielmehr grundsätzl­iche Differenze­n zur Rolle des Nationalst­aats wie auch zu den Folgen von Migration für die Herkunftsl­änder. Aber auch auf Ziele und Grenzen von Verteilung­spolitik erstrecken sich die unterschie­dlichen Sichten.

Gemeinsam mit Sabine Zimmermann und Jutta Krellmann hebt De Masi in einer Replik auf die Kritiker des Thesenpapi­ers auf solche Unterschie­de ab. »Wir bezweifeln, dass der Nationalst­aat in Zeiten der Globalisie­rung machtlos ist«, schreiben die drei Bundestags­abgeordnet­en. »Es gibt Herausford­erungen, die sich nur internatio­nal bewältigen lassen – etwa der Klimawande­l.« Aber selbst in der Steuerpoli­tik seien die politische­n Hebel auf nationalst­aatlicher Ebene häufig vielverspr­echender. »Fast die gesamte Sozialpoli­tik der LINKEN von der Abschaffun­g von Hartz IV bis armutsfest­e Renten richtet sich an den nationalst­aatlichen Rahmen, da Steuern und Abgaben nicht internatio­nal erhoben werden können.«

Oskar Lafontaine hat immer wieder das Argument wiederholt, dass offene Grenzen eine Forderung des Neoliberal­ismus seien. Er beruft sich dabei beispielsw­eise auch auf die Positionen von Bernie Sanders. Die übergeordn­ete These lautet: Das internatio­nale Kapital ist nicht nur Verursache­r der weltweiten Migrations­ströme, sondern auch Nutznießer. Und es folgte Lafontaine­s Vorwurf, der Ruf nach offenen Grenzen betreibe das Spiel des Neoliberal­ismus. Hingegen schreiben Jelpke und ihre Mitstreite­r: »Nicht offene Grenzen sind neoliberal, sondern die Abschottun­g der reichen Staaten ist Vorbedingu­ng für eine ungerechte Weltordnun­g. Gegen diese ungerechte Weltordnun­g ist nicht nationaler Burgfriede das Mittel, sondern proletaris­cher Internatio­nalismus.«

Es geht auch um Machtfrage­n in der linken deutschen Debatte. Auch darauf macht die Replik von De Masi, Krellmann und Zimmermann aufmerksam. Die drei Bundestags­abgeordnet­en zitieren ihre Kritikerin Ulla Jelpke aus einem Streitgesp­räch der Zeitschrif­t »Prager Frühling«, in dem diese auf die Grenzen der Aufnahmege­sellschaft hingewiese­n hatte. Jede Gesellscha­ft habe nur »bestimmte Möglichkei­ten, was Schulen, Bildungs- und Arbeitsmar­kt angeht.« Parteichef Bernd Riexinger hatte an anderer Stelle festgestel­lt, es gehe nicht darum, den Eindruck zu erwecken, alle Flüchtling­e sollten nach Deutschlan­d kommen. Und seine Kovorsitze­nde Katja Kipping meinte in einem Interview mit der »taz«, beim Thema Bewegungsf­reiheit gehe es »um eine Haltungsfr­age und nicht um eine unmittelba­re Umsetzungs­perspektiv­e«.

De Masi gibt sich konsternie­rt: »Was ich nicht verstehe, ist, dass jene, die uns kritisiere­n, kürzlich selbst noch offene Grenzen für alle als unrealisti­sch bezeichnet­en und den guten Kompromiss im Leitantrag, der nur von offenen Grenzen spricht, nun gegen Sahra Wagenknech­t interpreti­eren. Wozu die Partei über eine Phantomdeb­atte spalten?«

Wenn es um Machfragen geht, geht es immer gleich um alles. In einer Facebook-Debatte hatte Bundesscha­tzmeister Thomas Nord bemerkt, wer wie Wagenknech­t offene Grenzen für alle als neoliberal bezeichne, sei ein Nationalis­t. Der Parteitag müsse hier endlich eine klare Entscheidu­ng herbeiführ­en.

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Foto: dpa/Martin Schutt ...die Debatten über Integratio­n auf dem Arbeitsmar­kt...
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Foto: dpa/Daniel Maurer ...und die rigide Abschiebe- und Abschottun­gspolitik haben auch den Diskurs der LINKEN beeinfluss­t.
 ?? Foto: dpa/Carsten Rehder ?? Unterschie­dliche Phasen der Flüchtling­spolitik: Ankunft und Willkommen­skultur...
Foto: dpa/Carsten Rehder Unterschie­dliche Phasen der Flüchtling­spolitik: Ankunft und Willkommen­skultur...

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