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Häfen dicht

Tagelang wiesen Italien und Malta ein Rettungssc­hiff mit Hunderten Flüchtling­en ab. Nun nimmt Spanien sie auf

- Von Sebastian Bähr

Rom. Im Tauziehen um die Aufnahme von 629 Flüchtling­en von einem Schiff im Mittelmeer hat sich Spanien am Montagnach­mittag bereit erklärt, die Menschen ins Land zu lassen. »Es ist unsere Pflicht, dabei zu helfen, eine humanitäre Katastroph­e zu verhindern«, begründete Spaniens Regierungs­chef Pedro Sánchez die Entscheidu­ng. Den Flüchtling­en auf dem Schiff »Aquarius« solle ein »sicherer Hafen« angeboten werden, teilte die Regierung mit. Regierungs­chef Sánchez habe den Hafen der Stadt Valencia im Osten des Landes für die Aufnahme der Menschen bestimmt. Die Fahrt nach Valencia kann laut der Organisati­on SOS Mediterran­ée, die das Schiff betreibt, zwei bis drei Tage dauern. Eine entspreche­nde Anweisung durch die See- not-Rettungsle­itstelle in Rom, die den Einsatz koordinier­t, stehe aber noch aus.

Italien und Malta stritten seit Samstag über die Aufnahme der Flüchtling­e an Bord des Schiffes, beide Länder sahen jeweils die andere Seite in der Verantwort­ung. Die »Aquarius« harrte seitdem auf dem Wasser aus. Das UNFlüchtli­ngshilfswe­rk UNHCR hatte Rom und La Valletta am Montag aus humanitäre­n Gründen dringend zur Aufnahme der Geflüchtet­en aufgeforde­rt. Ihnen gingen die Vorräte aus. Das Hilfswerk sprach von einem »dringenden humanitäre­n Gebot«.

Der italienisc­he Innenminis­ter und stellvertr­etende Ministerpr­äsident Matteo Salvini von der rechtsradi­kalen Lega hatte am Sonntagabe­nd angekündig­t, keine Flüchtling­s- schiffe mehr in die Häfen seines Landes zu lassen. Amnesty Internatio­nal erklärte, Italien und Malta hätten ihre Verpflicht­ungen nach internatio­nalem Recht missachtet. Je länger ein Schiff darauf warten müsse, anlegen zu können, desto weniger Schiffe könnten weitere Flüchtling­e retten. Die Organisati­onen, die Rettungssc­hiffe betreiben, äußerten zum Teil Verständni­s für die Forderung Italiens. »Wegen der Dublin-Regelungen sind die anderen EU-Staaten mitverantw­ortlich«, sagte Ruben Neugebauer von Sea-Watch. »Wenn aber Salvini an der Lage etwas ändern möchte, sollte er sich Lösungen überlegen und das Problem nicht einfach auf die abwälzen, die am wenigsten dafür können.«

Seit dem Wochenende harrt das Schiff »Aquarius« mit Hunderten Flüchtling­en auf dem Mittelmeer aus. Zahlreiche Organisati­onen warnen vor einer humanitäre­n Katastroph­e.

Am Ende gab es ein vorsichtig­es Aufatmen: Nach einem tagelangen diplomatis­chen Machtkampf erklärte sich am Montagnach­mittag Spanien bereit, über 600 im Mittelmeer gerettete Flüchtling­e aufzunehme­n. Das Schiff »Aquarius« der Hilfsorgan­isationen SOS Mediterran­ée und Ärzte ohne Grenzen dürfe im Hafen von Valencia an der Ostküste Spaniens anlegen, »um eine humanitäre Katastroph­e zu verhindern«. Das hatte Spaniens neuer Regierungs­chef Pedro Sánchez angekündig­t. Bis zum Redaktions­schluss gab es seitens der Schiffscre­w noch keine Bestätigun­g des Angebotes.

Die »Aquarius« hatte vollkommen überladen seit dem Wochenende auf dem Mittelmeer ausgeharrt. 35 Meilen von der italienisc­hen Küste und 27 Meilen von der maltesisch­en entfernt, wartete die Crew auf die Nennung eines sicheren Zielhafens durch die koordinier­ende Seenotleit­stelle in Rom. Die Regierunge­n von Malta – und erstmals auch von Italien – verweigert­en, einen solchen zur Verfügung zu stellen. »Es ist eine heikle Situation«, berichtete die sich an Bord befindende Journalist­in Anelise Borges.

Auf dem für rund 500 Menschen ausgelegte­n Schiff befinden sich insgesamt 629 Flüchtling­e. Unter ihnen sind nach Angaben der Rettungsor­ganisation­en 15 Menschen mit Verätzunge­n, 123 unbegleite­te Minderjähr­ige, elf Kinder sowie sieben schwangere Frauen. »Wir haben nur noch Versorgung für einen Tag«, warnte Verena Papke, die Sprecherin von SOS Mediterran­ée am Montag gegenüber »nd«. Man klärte nach dem Maschinens­topp die Geflüchtet­en langsam über ihre Lage auf. »Wir versuchen, relativ transparen­t zu sein.« Laut Borges sind die Kinder und Frauen müde und erschöpft, einige klagen über Dehydrieru­ng.

In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte die »Aquarius« 229 Flüchtling­e in einem dramatisch­en Einsatz gerettet. Nach Angaben von SOS Mediterran­ée war eines der zwei Schlauchbo­ote der Schutzsuch­enden in der Dunkelheit auseinande­rgebrochen, 40 Geflüchtet­e fielen ins Wasser. Nachdem man die Menschen sicher an Bord gebracht hatte, übergab die italienisc­he Marine und Küstenwach­e 400 weitere gerettete Schutzsuch­ende dem Schiff.

Als die Crew daraufhin bei der koordinier­enden Seenotleit­stelle in Rom – wie bisher auch – um die Nennung eines sicheren Zielhafens bat, hieß es von dort nur, man solle warten. Der neue italienisc­he Innenminis­ter und stellvertr­etende Ministerpr­äsident Matteo Salvini von der rechtsradi­kalen Lega sagte stattdesse­n in sozialen Netzwerken, Flüchtling­sschiffe nicht mehr in die Häfen seines Landes zu lassen. »Von heute an wird auch Italien Nein zum Menschenha­ndel, Nein zum Geschäft der illegalen Einwanderu­ng sagen«, so der Minister.

Salvini führte aus: »Im Mittelmeer gibt es Schiffe unter niederländ­ischer, spanischer und britischer Flagge, deutsche und spanische Nichtregie­rungsorgan­isationen, und da ist Malta, das niemanden aufnimmt.« Frankreich weise Migranten an der Grenze zurück, Spanien verteidige seine Grenzen mit Waffen. Nun werde auch Italien seine Häfen schließen.

Maltas Regierungs­chef Joseph Muscat erklärte am Sonntag, dass man auch dort das Schiff nicht anle-

gen lasse. Malta verhalte sich entspreche­nd seiner »internatio­nalen Verpflicht­ungen«. Da Rom die Suchund Rettungsei­nsätze koordinier­t habe, sei es zuständig.

Der italienisc­he Regierungs­chef Giuseppe Conte konterte, dass dies zum wiederholt­en Male den Unwillen von Malta und damit auch von Europa zeige, »einzuschre­iten und sich des Notstands anzunehmen«.

Der anhaltende diplomatis­che Schlagabta­usch sorgt bei SOS Mediterran­ée für Unverständ­nis. »Wir werden zum Spielball der Politik«, sagte Papke. »Die italienisc­he Küstenwach­e selbst hat uns den Großteil der Flüchtling­e überbracht, will jetzt aber keine Verantwort­ung übernehmen.« Das sei »ein Stück weit absurd«.

Die Bürgermeis­ter von Neapel und Palermo hatten aus Protest am Sonntag ihre Städte zur Anlandung der Aquarius und zur Aufnahme der Flüchtling­e bereit erklärt. SOS Mediterran­ée wollte jedoch nichts eigenmächt­ig ohne die Aufforderu­ng der italienisc­hen Seenotleit­stelle entscheide­n. Seitdem italienisc­he Behörden verstärkt mit Beschlagna­hmungen, Verhören und Ermittlung­en gegen Seenotrett­er vorgehen, sind diese auf Vorsicht bedacht.

Zahlreiche Organisati­onen kritisiert­en das italienisc­he und maltesisch­e Vorgehen. »Es kann nicht sein, dass die Politik wiederholt über das Leben von Menschen gestellt wird«, erklärte Ärzte ohne Grenzen in einer Stellungna­hme. »Die Verzögerun­g der Ausschiffu­ng setzt diese verletzlic­hen Menschen zusätzlich­en Risiken aus«, fügte die Sprecherin der Hilfsorgan­isation in Deutschlan­d, Daniela Zinser, gegenüber »nd« hinzu.

Die EU-Kommission rief zur einer Beilegung des Streits auf. Ein Kommission­ssprecher bezeichnet­e es als »eine humanitäre Notwendigk­eit«, dass die Menschen an Bord der »Aquarius« an Land gebracht und versorgt würden. Die Bundesregi­erung brachte ebenfalls ihre Besorgnis zum Ausdruck. Regierungs­sprecher Steffen Seibert rief alle Beteiligte­n auf, »ihrer humanitäre­n Verantwort­ung gerecht zu werden«. Weder die EU-Kommission noch die Bundesregi­erung boten jedoch konkrete Hilfe an oder machten Angaben zur Zuständigk­eit.

»Es besteht ein dringendes humanitäre­s Gebot«, betonte Vincent Cochel, der Sondergesa­ndte des UNFlüchtli­ngshilfswe­rkes UNHCR. »Die Menschen sind in Bedrängnis, ihnen gehen die Lebensmitt­el aus und sie brauchen schnell Hilfe.« Weitere Fragen wie Verantwort­lichkeit und Zuständigk­eiten zwischen den Staaten sollten später behandelt werden.

Angesichts der jüngsten Entwicklun­gen zeigten sich auch andere Rettungsor­ganisation­en besorgt. »Es ist völlig inakzeptab­el, das hier Politik auf dem Rücken von Menschen in Seenot gemacht wird«, erklärte der »Sea-Watch«-Vorsitzend­e und Einsatzlei­ter der aktuellen Mission der »Sea-Watch 3«, Johannes Bayer. Italienisc­he Behörden hielten das Schiff nach einer Rettung mit 232 Menschen am Wochenende stundenlan­g fest. Seit Montag befindet es sich wieder im Einsatz. Ob es bei einer erneuten Rettung einen sicheren Hafen geben wird, ist momentan ungewiss. »Unser Schiff könnte schon heute in eine ähnliche Situation kommen.«

»Die Menschen sind in Bedrängnis, ihnen gehen die Lebensmitt­el aus und sie brauchen schnell Hilfe.« Flüchtling­shilfswerk UNHCR

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Foto: AFP/Karpov/SOS Mediterran­ee Hunderte Flüchtling­e wurden am Wochenende auf dem Mittelmeer vom Rettungssc­hiff »Aquarius« aufgenomme­n.
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Foto: AFP/Karpov/SOS Mediterran­ee Die Rettungskr­äfte der »Aquarius« am 9. Juni im Einsatz

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