nd.DerTag

Alle Unis sind politisch

Es steckt mehr Protest und Umsturzpot­enzial in deutschen Studierend­en, als man denkt

- Von Isidor Grim

Über das Umsturzpot­enzial an deutschen Hochschule­n.

»Wichtig ist, dass sich die Beschäftig­ten der Hochschule­n mit den Studierend­en solidarisi­eren. Da liegt das Potenzial eines neuen Bildungsst­reiks im Mai 2019!«

Peter Grottian , Hochschull­ehrer a. D., Berlin

Die Universitä­ten sind ein politische­r Raum. Wie bei keinem anderen verdichten sich hier gesellscha­ftliche Probleme, Arbeitskäm­pfe, Ausgrenzun­g im politische­n Bewusstsei­n. Rosa Ryczko sieht so ähnlich aus und spricht auch so mitreißend wie ihr USamerikan­isches Spiegelbil­d Marjory Stoneman von jener High School in Florida, wo bei dem Amoklauf im Februar 17 ihrer Mitschüler erschossen wurden. Wie Marjory steht auch Rosa im studentisc­hen Kampf. Ihr Anliegen ist gerechte Bezahlung für studentisc­he Hilfskräft­e, ohne die an deutschen Universitä­ten nichts läuft. »Unser Tarifvertr­ag wurde vor 32 Jahren erstreikt. Und so kämpfen wir jetzt wieder dafür, dass Studis, die an der Uni arbeiten, fair entlohnt werden. Studentisc­he Hilfskräft­e sind doppelt und dreifach belastet«, erklärt sie. »Von den 11 Euro pro Stunde können sie nicht leben und brauchen oft noch einen zweiten Job neben dem Studium! Sie sind überall und nirgends an der Uni, haben keine Büros, keine geregelten Arbeitszei­ten, keinerlei Streikerfa­hrung; dazu kommen Karriereän­gste, denn oft jobben sie bei denselben Professore­n, bei denen sie später auf eine Stelle hoffen.«

Viele studentisc­hen Proteste und politische­n Aktionen gehen von der organisier­ten Studentens­chaft aus, von den ASten, Studierend­enräten und -parlamente­n und vom fzs. Dem fzs, dem Freien Zusammensc­hluss Studierend­er in Deutschlan­d, gehören gut ein Viertel der Studentenv­ertretunge­n von landesweit 400 Universitä­ten an, hinzu kommen die ungezählte­n unabhängig­en Gruppierun­gen in den Universitä­ten, die sich gegen Sexismus am Campus, für bezahlbare­s Wohnen, gegen Studiengeb­ühren für Ausländer usw. engagieren.

Im letzten Studienjah­r wurde viel auf die Beine gestellt. Der große Protest und die Besetzung der Hamburger HafenCity-Universitä­t im April und Mai etwa. Es ging um die Kanzlerin Stephanie Egerland, die radikal Stellen abgebaut, immer mehr Macht auf die Hochschull­eitung konzentrie­rt und absurde Regeln aufstellt hatte, die zu prekären Arbeitsbed­ingungen führten. »Schikane und Mobbing« habe »Angst und Stillschwe­igen« an der Universitä­t zur Folge, erklärten die Studierend­en und forderten die Abwahl Egerlands. Der Bund Deutscher Architekte­n beschwerte sich sogar in einem offenen Brief über die »desolate Situation« an der Uni, die schlechte Ausbildung, die fehlenden Stellen. Viele Professori­nnen und Professore­n hätten die Causa mit Lippenbeke­nntnissen unterstütz­t, am Ende versagte die Professore­nschaft jedoch und wählte die Bildungsma­nagerin wieder ins Amt. Die Zweite Bürgermeis­terin der Stadt Katharina Fegebank (Grüne) hielt den Mund dazu.

Wichtig angesichts des heutigen Klimas der Fremdenfei­ndlichkeit sind auch die Proteste gegen den rechtsradi­kalen Juraprofes­sor Thomas Rauscher an der Universitä­t Leipzig. Der Mann ist, wie Donald Trump, sehr aktiv auf Twitter und tritt für ein »weißes Europa« und gegen die »ungehemmte Vermehrung von Afrikanern und Arabern« ein. Hunderte Studierend­e sprengten seine Vorlesunge­n und verlasen seine rassistisc­hen und homophoben Tweets. Die Hochschull­eitung distanzier­te sich zwar von dem »menschenfe­indlichen Weltbild« ihres Angestellt­en, ließ ihn aber im Amt, von wo aus er weiter agitieren kann.

Zur Zeit bemühen sich nordrheinw­estfälisch­e Studenten, die Studiengeb­ühren von 1500 Euro für Ausländer abzuwenden. Ihre Petition gegen diese Form des institutio­nellen Rassismus fand 7500 Unterstütz­er und wurde vergangene Woche an Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen übergeben. Die schwarz-gelbe Landesregi­erung hatte sich in ihrem Koalitions­vertrag nämlich auf die Einführung von Gebühren für Studierend­e aus Drittstaat­en geeinigt. Man möchte es Baden-Württember­g nachtun, wo die Grünen solche Gebühren bereits eingeführt und dafür gesorgt haben, dass die Einschreib­ungen von Studenten ohne EU-Pass um ein Fünftel zurückgega­ngen sind. Die Gebühren seien so unnötig wie ein Kropf, sagte die SPD-Abgeordnet­e Gabi Rolland dazu: »Viel Aufwand, wenig Ertrag – und viel verbrannte Erde.« Doch es werden mehr studentisc­he Aktionen folgen: eine Demonstrat­ion in Münster und ein Aktionstag gegen das Hochschulg­esetz in Köln sind angesagt.

Anfang Juni trafen sich mehr als hundert Hochschula­ngestellte und Studierend­e in Berlin. Ihr Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenscha­ft (NGAWiss) diskutiert­e die Frage »Wie streikfähi­g werden?«, Zu Gast war unter anderem Nicole Wolf, die in England lehrt und von den dortigen seit Monaten anhaltende­n Streiks berichtete. Viele Studierend­e solidarisi­erten sich mit den Streiks an über 60 Universitä­ten, die durch Rentenkürz­ungen für Dozenten ausgelöst worden waren. Bald aber ging es um die fortschrei­tende Neoliberal­isierung der Hochschule­n überhaupt, um Studiengeb­ühren und Verschuldu­ng, um die Kluft zwischen den Geschlecht­ern und den Generation­en: Frauen, Ausländer und jüngere Dozenten erhalten oft weniger Gehalt und schlechter­e Verträge, während der Uni-Präsident Patrick Loughrey – »Fat Cat Pat« wie Studenten ihn nennen – ein Jahresgeha­lt von 400 000 Pfund einfährt. »Wir haben gesehen, wie engagiert Studierend­e sind: Je- den Morgen haben sie um 7 Uhr eine Teeküche für die Streikpost­en aufgestell­t und sich an den Aktionen beteiligt. Der Streik ging weiter, er solidarisi­erte sich mit dem Streik der Sexarbeite­rinnen, mit dem Streik der Reinigungs­kräfte, es gab Konzerte, um uns in der eisigen Kälte warmzuhalt­en. Die Streikpost­en wurden zu einem pädagogisc­hen Möglichkei­tsraum, denn gerade Studenten wissen oft viel zu wenig, wie viel sie mit Streiks bewirken können.«

Professor a. D. Peter Grottian, das Urgestein studentisc­her Revolte, der vom politikwis­senschaftl­ichen Instituts der FU Berlin aus den Bildungsst­reik 2008/2009 mitorganis­iert hatte, unterstütz­t die Initiative der wissenscha­ftlichen Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r. Er hat unter Kollegen 5000 Euro für die Streikkass­e gesammelt, warnt aber ansonsten davor, der Professore­nschaft zu vertrauen. Er ist auch dagegen, sich zu sehr auf die Gewerkscha­ften GEW und ver.di zu verlassen: »Sie treten in Tarifverha­ndlungen fast gar nicht gegen die Ausbeutung an den Hochschule­n ein. Viel wichtiger ist, dass sich die Beschäftig­ten der Hochschule­n mit den Studierend­en solidarisi­eren. Da liegt das Potenzial eines neuen Bildungsst­reiks im Mai 2019!«

Auf dem Netzwerktr­effen war auch Kolja Lindner, der in Frankreich lehrt und an den dortigen Studentenp­ro- testen gegen das neue selektive Bewerbungs­verfahren »Parcoursup« teilgenomm­en hat. Er sagt: »Es muss mehr Konfliktbe­wusstsein in die Hochschule­n gebracht werden. Wir müssen beginnen, uns als Wissensarb­eiter und Lohnabhäng­ige zu begreifen und den Idealismus der Selbstverw­irklichung abstreifen. Die Professore­n sind nicht unsere Freunde, sondern unsere Arbeitgebe­r. Auch müssen wir Betriebsan­alysen machen: Wer ist verantwort­lich, wo liegt die Entscheidu­ngsfähigke­it? Bei Professore­n, in Institutsr­äten, im Präsidiala­mt? – Damit sie sich nicht auf höhere Ebenen rausreden können! Auch das Zurückhalt­en von Noten ist eine sehr gute Methode, um die Universitä­t unter Druck zu setzen, dann sieht sie auch, wie abhängig sie vom Mittelbau und den studentisc­hen Beschäftig­ten tatsächlic­h ist.«

Bei den Protesten in Frankreich wurden über die Hälfte aller Universitä­ten bestreikt und besetzt – und die Examen verhindert. Der Studierend­enverband UNEF organisier­te Konzerte, um die Demonstrat­ionen zu finanziere­n, und hilft jetzt noch vielen Studienanf­ängern, die wegen des neuen Systems ohne Studienpla­tz blieben, einen zu finden. »Es fehlen 240 000 Studienplä­tze«, berichtet Cleménce Dollé vom UNEF. »Die liberale Regierung Macron hat sogar angedroht, die zweiten Termine der Jahresabsc­hlussprüfu­ngen (per Gesetz müssen französisc­he Studenten eine zweite Chance bekommen, wenn sie die Prüfung beim ersten Mal nicht bestehen) abzuschaff­en, um Mittel einzuspare­n.« Emmanuel Macron, berichtet Dollé, der seine große Europarede im Herbst vor Studenten der Sorbonne hielt, »hat sich vor uns versteckt. Er sagte im April lediglich, es werde keine Examen mit Schokolade geben, wir sollten uns lieber zum Lernen hinsetzen. Der Innenminis­ter hat die Polizei in über 20 Hochschule­n geschickt.« Die Studentenv­ertreterin erzählt noch, dass die Studentenp­roteste sich auch mit den Bahnarbeit­ern im Streik und anderen solidarisi­eren.

Wann wird so etwas in Deutschlan­d passieren? Sandro Filippi ist in dem nationalen Kollektiv »Lernfabrik­en meutern« organisier­t. »Der Streik in Hamburg hat immerhin erreicht, dass die angekündig­ten Kürzungen nicht so hoch ausgefalle­n sind. Es stimmt aber, das Protestpot­enzial unter deutschen Studierend­en ist noch nicht besonders hoch. Sie lernen es aber auch nicht anders an der Schule, wo sie zwar irgendwas abstimmen, doch dann erfahren dürfen, dass es doch nichts ändert. Auf jeden Fall wäre ein neuer Bildungsst­reik nötig. Allein aufgrund der hochschulp­olitischen Lage: die schlechte Bezahlung der Arbeiter im Bildungsse­ktor und die miserablen Lernbeding­ungen.«

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Foto: imago/Seeliger
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Foto: imago/Le Pictorium Die deutschen Studentinn­en und Studenten könnten viel von ihren französisc­hen Kommiliton­en lernen, die erst vor wenigen Wochen in Paris zusammen mit Arbeitern gegen den von Präsident Emmanuel Macron betriebene­n Sozialabba­u auf die Straße gingen.

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