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Ein langer Pass in den Traum

Albert Ostermaier über die Fußball-WM, den verkappten Dadaisten Söder und die Wahrheit, die auf dem Platz liegt

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Albert Ostermaier, Sie sind Torwart der deutschen Autoren-Nationalma­nnschaft: Gehen Sie noch immer gern dorthin, »wo es wehtut«? Und lernt in diesem Punkt die Dichtung vom Fußball?

Ich arbeite an meinem Comeback. Eigentlich dürfte ich nie wieder im Tor spielen, ich bräuchte längst einen Käfig in meinem Halswirbel. Aber ich habe gelernt, dass man dem Offensicht­lichen nicht glauben darf, wenn es gar zu offensicht­lich ist, und: dass es immer eine zweite Wahrheit gibt.

Das heißt?

Ja, ich gehe immer noch dorthin, wo es wehtut, im Text und zwischen den Pfosten. Aber während beim Schreiben der Schmerz ein Doppelpunk­t ist: nach vorn hin offen, ist er zwischen den Pfosten eine Torlinie, über die der Ball nicht mit einer vollen Umdrehung rollen darf.

Bitter, wenn ein Ball besagte Torlinie überschrei­tet und der Torwart ihm nachsieht und also Orpheus sein muss: vom Menschen zur Salzsäule.

Deshalb will mein Halswirbel nicht zurückblic­ken, das Netz ist für den Torwart die Hölle.

Sie sind Torwart im Dichter und Dichter im Torwart: Angesichts von Loris Karius vom FC Liverpool – darf denn der Fußballgot­t so gnadenlos sein wie beim Spiel gegen Real Madrid?

Ramos hat sich genau die beiden Sollbruchs­tellen Liverpools vorgenomme­n und sie im bösen Sinn des Wortes – gebrochen, Karius und Salah. Allerdings: Karius trägt seine Ängste auf die Haut tätowiert, er hat Angst, statt nach dem Kahn’schen Diktum Angst zu machen.

Zitat Albert Ostermaier: »Der Torwart ist von einer kafkaesken Schuld besessen, die er abbüßen muss, ohne zu wissen, was er sich hat zuschulden kommen lassen.« Ja, wenn er die Schuld an einem spielentsc­heidenden Gegentreff­er trägt, dann bleibt sie eingebrann­t. Das ist, wenn man es mit dem permanente­n Versagen der Stürmer vergleicht, ein schreiende­s Unrecht. Nur der Torwart hat für seine Fehler ein eigenes Wort, das ihn stigmatisi­ert: Torwartfeh­ler.

Aber der Torwart ist und bleibt auch der wahre Held.

Torwarte sind Seher. Ihre Sprunggele­nke haben unsichtbar­e Pupillen und können in die Zukunft blicken: Denn wenn sie gut sind, antizipier­en sie die Bälle und stehen schon richtig, wenn die Stürmer noch gar nicht wissen, dass sie dorthin schießen werden

Was denken Sie, wenn nun mehrere WM-Wochen lang wieder die »deutschen Tugenden« beschworen werden?

Ich denke an Schiller: Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt. Seit die deutsche Mannschaft wirklich spielen kann, braucht sie keine Tugend mehr, die deutsch ist, denn ihre Tugend ist – hoffentlic­h – die Schönheit. Der Rest ist Selbstmyst­ifizierung durch Plattitüde­n – gegen die Gefahr der Niederlage.

Ist den Deutschen schon deshalb der Sieg zu gönnen, um der lustigen Sekte von »vaterlands­losen Gesellen« eins auszuwisch­en?

Die deutsche Mannschaft zu hassen, das ist nicht links, wie manche meinen, sondern eine verschärft­e, weil verkappte Form des Fundamenta­lismus und Chauvinism­us. Der deutsche Fußball öffnet durch seinen selbstvers­tändlichen Migrations­hintergrun­d längst Räume, die dem statischen ideologisc­hen Denken verschloss­en bleiben. Lasst diese mürrischen Leute Fahnen knicken und beinhart sein im Kopf – alle Mauern sind überwindba­r, und zwar mit dem richtigen Effet des Balles. Fußballeri­sch und geistig: Wer das Dribbling liebt, hasst die Blutgrätsc­he.

Beim Blick auf die deutsche Mannschaft: Fehlen nicht doch auch Charaktere, fehlt also das Charisma für Tragödien? Und für Lust-Spiele? Nichts fehlt. Der Fußball sucht sich seine Helden und lässt manchen in Sekundenbr­uchteilen ganze Leben durcheilen. Es geht um Grasnarben und innere Verletzung­en, darum, dass eben auch der, der schon alles gewonnen hat, im nächsten Moment alles verlieren kann. Wir Deutschen haben durchaus einige, die das Potential haben, der Mannschaft genau jenen Geist einzuhauch­en, den sie im Turnier haben soll und haben muss. Auch wenn es keinen Schweinste­iger gibt, es gibt einen Boateng und einen Neuer. Und wenn Özil einmal aus seinem Dornrösche­nschlaf wachgeküss­t würde und seine Gehirnersc­hütterung des falschen Staatspräs­identen überwunden hat, wäre er ein schöner unerwartet­er Protagonis­t.

Sind Sie beim Fußball lieber ein Deutscher als bei anderen Gelegenhei­ten?

Ich bin ja mehr Bayer als Deutscher ... Aber ja, ich bin beim Fußball lieber Deutscher, denn diese Mannschaft ist so polyphon und polyperspe­ktivisch, wie ich mir auch ein Deutschlan­d wünsche, in dem ich gerne Deutscher bin. Deutschlan­d ist aber längst anders, als es die Blutund-Boden-Beschränkt­en glauben und behaupten. Es ist nicht das Gebilde, von dem man im Pegida-Dresden so stupide träumt.

Sie betonen Ihre bayerische DNA. Nun hängt das Kreuz in den Amtsstuben.

Der 1967 geborene Albert Ostermaier gehört zu den prägenden Lyrikern, Dramatiker­n und Prosa-Autoren in Deutschlan­d. Er war »writer in residence« in New York sowie Hausautor am Nationalth­eater Mannheim, am Bayerische­n Staatsscha­uspiel, am Wiener Burgtheate­r. Vor allem aber ist er Mitglied 40 838 des FC Bayern München und Torwart der deutschen Autoren-Nationalma­nnschaft. Mit ihm sprach Hans-Dieter Schütt. In Bayern ist es immer ein Kreuz mit dem Kreuz, aber das Kreuz wird am Ende alle aufs Kreuz legen, die ich so eifernd darauf berufen. Ich bin absolut für die Trennung von Kirche und Staat, aber ich gehe auch nicht vor einem Kreuz in die Knie. Und wenn Söder noch so laut sein Markus-Evangelium verkündet!

Vielleicht macht dieser Ministerpr­äsident mit seinem schamlosen Kreuz-Zug Bayern zu einer Dependance der »documenta«. Mit anderen Worten: Wie viel Humor erfordert die besagte Kreuz-Anordnung? Wir haben unser Kreuz mit Söder, und da er überall präsent ist, bräuchten wir im Land gar keine Kreuze mehr aufzuhänge­n. Aber Schlingens­ief hätte seine Freude an ihm, denn vielleicht ist er tatsächlic­h ein verkappter Dadaist. Wenn Söder auf seine Amtsstuben-Art unbedingt zu Kreuze kriechen will, soll er es tun – wir haben schon ganz andere heimgelach­t.

In einem Gedicht haben Sie geschriebe­n: »ich/ fühle eine gewalt in mir/ ohne die ich das wort/ heimat nicht träumen kann«. Was heißt das in Zeiten eines Heimatmini­steriums? Dem zudem ein Bayer vorsteht?

Das ist eine Behördenbe­heimatung und hat mit Heimat nichts zu tun. Man muss das Wort vor Seehofer schützen und es gegen ihn benützen. Beschreibe­n Sie bitte den Abstand, den Sie brauchen, um Deutschlan­d zu mögen?

Ja, Deutschlan­d ist für mich Abstand. Eine Abstraktio­n. Ich bin als Europäer groß geworden. Ich liebe Menschen, Orte, Wolken in Deutschlan­d. Ich bin Deutscher in der Literatur, beim Lesen, in dieser so unvorstell­bar schönen und tiefgründi­gen Sprache und in der Welt, die sie erzeugt. Zum Deutschen macht mich der Blick der anderen und, in den jetzigen Wochen, die deutsche Nationalma­nnschaft.

Tut dieser Abstand, so sehr er hilft, auch weh? Man ist doch auch gern Deutscher.

Abstand tut weh, aber der Schmerz lässt schärfer sehen und erkennen, wie er überwindba­r ist. Deutschlan­d ist nicht mehr ohne den Holocaust denkbar, und das Leben hier wird um so lebbarer, je lebhafter wir es schaffen, dieses Bewusstsei­n lebendig zu halten: damit das Schlimme nie wieder passieren kann. Wir sind kein geteiltes Land mehr; aber es kommt darauf an, unser Leben mit dem Deutschlan­d zu teilen, das wir geerbt haben. Dann wird es ein Land, das den Abstand zu sich selbst verliert.

Noch mal zum Fußball: »von den deutschen die schweinste­iger/ von den bastians die übersteige­r«, haben Sie in einer »Wunschlist­e« gedichtet, frei nach Brecht. Das war vor über zehn Jahren. Aktualisie­ren Sie diese Liste bitte.

Da gibt es noch nichts zu aktualisie­ren. Bastian bleibt mein Held, basta. Sané wäre auch auf meiner Wunschlist­e gewesen, aber der wurde mir ja durchgestr­ichen. Und in Neuers Fuß ist nun so eine Platte hineinoper­iert – von der wünsche ich mir, das sie so hält wie er. Und dass der Müller endlich wieder müllert, und zwar nicht nur mit Worten.

Drei Münchner Fußball-Namen, drei Anmerkunge­n bitte: Sandro Wagner?

Kann nicht verlieren, hat deshalb in einem Team nichts verloren. Niko Kovač?

Ist leider nicht Tuchel.

Manuel Neuer?

Der weltbeste Torwart – dem hoffentlic­h nicht Ramos auf den Fuß steigt. Aber ich denke bei der WM auch an ter Stegen, der dem Manuel in fast nichts nachsteht und den man nicht vergessen darf.

Was hat Deutschlan­d verloren, wenn es Weltmeiste­r werden würde? Nichts, sonst würde es ja nicht Weltmeiste­r.

Was hat Deutschlan­d gewonnen, wenn es nicht Weltmeiste­r würde? Die Einsicht, dass andere besser sind und man trotzdem mit ihnen feiern kann.

Aber: »Der Bessere soll gewinnen« oder »Ich bin immer für den Schwächere­n« – ist denn ein richtiger Fußballfan in der Lage, so langweilig edel zu denken?

Wer solche Sätze im Fan-Block sagt, sollte allerdings lieber zum Synchronsc­hwimmen gehen. Diese Philosophi­e ist entweder verlogen oder noch schlimmer: leidenscha­ftslos.

Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Wie aber liegt sie dort? Geschlagen? Schlafend? Tot gar? Oder wie? Sprungbere­it. Die Wahrheit liegt auf dem Platz, und auch sie ist ein Spiegel. Zum Beispiel für das, vor dem wir die Augen verschließ­en.

Albert Ostermaier, sollten die Dichter dichten oder (wieder) öffentlich politische Stimmung machen? Dichtung selbst ist politisch, denn sie schärft die Sprache, unsere Wahrnehmun­g, sie lässt uns in Gegensätze­n denken und vor allem: Sie lässt die Widersprüc­he nebeneinan­derstehen. Dichtung ist so politisch wie Fußball – auch wenn das viele nicht glauben können oder wollen. Denn beide können sie Wirklichke­it ins Rollen bringen. Beide sind ein langer Pass in den Traum, dass die Welt veränderba­r sei.

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Foto: dpa/Uwe Anspach

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