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Auch Zahlen sind politisch

Der Autor Oliver Schlaudt kritisiert die scheinbare Objektivit­ät von Statistike­n

- Von Guido Speckmann

Das Bruttoinla­ndsprodukt ist ohne Zweifel die wichtigste politische Zahl, die Statistike­n ausweisen. Doch ist es nur ein Beispiel unter vielen über die Macht der Zahlen im gegenwärti­gen Neoliberal­ismus. »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Dieser Satz ist längst zum geflügelte­n Wort geworden. Doch um Statistike­n oder Zahlen, die durch Fälschung entstehen und mit denen Akteure einen politische­n Zweck verfolgen, geht es in dem neuen Buch von Oliver Schlaudt nur am Rande. Den über ökonomisch­e Fragen schreibend­en Philosophe­n interessie­ren jene Zahlen, bei denen alles mit rechten Dingen zugeht. Denn: Auch dann sind Zahlen politische Zahlen, so Schlaudts Hauptthese.

Er verdeutlic­ht das anhand des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Die magische Zahl über die Rate des Wirtschaft­swachstums ist ohne Zweifel die wichtigste politische Zahl. Wenn es heißt, die deutsche Wirtschaft ist um soundsovie­l Prozent gewachsen, wird das als gut bewertet. Und zwar von allen relevanten poli- tischen Akteuren, seien es konservati­ve oder linke Parteien, Unternehme­rverbände oder Gewerkscha­ften. Die Zahl bekommt dadurch den Status des Faktischen und Unhinterfr­agbaren. Sie wird gewisserma­ßen eine politische Zahl, weil sie – paradoxerw­eise – entpolitis­ierend wirkt. Warum? Weil diese hochkomple­xe Zahl, die den Zustand einer ganzen Volkswirts­chaft in einer Ziffer auf den Punkt bringen will, an sich nicht mehr hinterfrag­t wird. Höchstens wird ein »ja, aber« nachgescho­ben. Das Wachstum müsse gerecht verteilt oder ökologisch gestaltet werden.

Dabei liegen die Probleme des BIP auf der Hand. Schlaudt schreibt: »Wer das Auto nimmt, trägt mehr zum BIP bei, als wer mit dem Fahrrad fährt. Wer sein Auto gar auf dem Nachhausew­eg zu Schrott fährt, ist ein Held des BIP.« Wie, so fragt der Autor, kann diese Zahl also mit dem Wohlergehe­n zusammenhä­ngen?

Das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) ist nur ein Beispiel über die Macht der Zahlen im gegenwärti­gen Neoliberal­ismus. Evaluation­en, Leistungsi­ndikatoren, Rankings und Benchmarks – überall bestimmen Ziffern unsere Lebensreal­ität. Die zugrunde- liegenden Vorentsche­idungen und Annahmen werden aber kaum problemati­siert.

Der Schein der Objektivit­ät, der von diesen Zahlen ausgeht, wird von Schlaudt kritisiert. Das Interessan­te an seinen Ausführung­en ist, dass die politische­n Zahlen nicht mit anderen, besseren Zahlen kritisiert werden. Im Gegenteil: Der Autor kritisiert auch dieses Vorgehen. So bemängelt er beispielsw­eise an den alternativ­en Konzepten des BIP, dass sie auf der Ausdehnung des Kapitalbeg­riffs beruhen.

Schlaudts Ausführung­en sind anspruchsv­oll. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird jedoch mit neuen Erkenntnis­sen belohnt. Kritisch anzumerken ist, dass der Neoliberal­ismus bei Schlaudt mitunter als einheitlic­h handelndes Subjekt erscheint. Seine Schlussfol­gerung lautet: Politik muss politische­r werden, damit sie nicht zur technokrat­ischen Expertenhe­rrschaft verkommt, die auf scheinbar objektive Zahlen und den Markt vertraut.

Oliver Schlaudt: Die politische­n Zahlen. Über Quantifizi­erung im Neoliberal­ismus, Klosterman­n, Frankfurt am Main 2018, 192 Seiten, 19,80 Euro

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