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In Deutschlan­d? Ein einziger Brei!

Ein Gespräch mit dem Autor Sebastian Lotzer über Militanz und soziale Kämpfe in Frankreich und Deutschlan­d

- Von Christophe­r Wimmer

Sebastian Lotzer lobt die autonome Szene Westberlin­s der 80er und 90er Jahre und militante Proteste in Frankreich. Aktuelle linksradik­ale Politik in Deutschlan­d hält er für überholt. Ein Treffen in der Kneipe. Sebastian Lotzer heißt eigentlich anders. Seinen bürgerlich­en Namen wird er auch am Ende des zweistündi­gen Gesprächs nicht verraten. Dies tut aber auch nichts zur Sache. Sein Pseudonym verweist auf den gleichnami­gen Schriftste­ller der Reformatio­n, der eine erste Aufstellun­g von Menschen- und Freiheitsr­echten auf deutschem Boden zu Papier gebracht hatte. Freiheit und Selbstermä­chtigung sind dann auch die zentralen Themen des Gesprächs in einer Kneipe in Berlin-Kreuzberg, die Lotzer vorgeschla­gen hat.

Direkt am Anfang muss er erst einmal laut lachen. Die Frage, was am diesjährig­en 1. Mai in Berlin los war, beantworte­t er eindeutig: »Partyfasch­ismus. Und einige Leute, die schwarz gekleidet und vermummt eine halbe Stunde spazieren gegangen sind. Das war alles.«

Euphorisch­er fällt sein Blick über den Rhein aus. Lotzer hatte jüngst mit »Winter is coming« ein Buch über die sozialen Kämpfe in Frankreich veröffentl­icht. In Paris brannten am 1. Mai Autos, Läden wurden geplündert und Banken entglast. »Dort geschehen spannende Dinge«, so Lotzer. »Bereits 2016 gab es bei den Protesten gegen das Arbeitsges­etz gemeinsame Aktionen von Gewerkscha­ften, Studierend­en, Eisenbahne­rn und radikalen Linken. Da hat sich etwas verändert: Verschiede­ne Kämpfe kommen hier zusammen.«

Woher kommt diese Zusammenar­beit? »Man muss die Situation in Frankreich bedenken. Es gab 2016 die realistisc­he Chance, das Marie Le Pen Präsidenti­n wird. Es gab nur düstere Aussichten, nur reaktionär­e Scheiße. Dagegen regte sich aber Widerstand. Verschiede­nste Leute kamen an der Basis zusammen und schufen sich selbst neue Parolen, neue Begrifflic­hkeiten und neue Aktionsfor­men.« Lotzer kommt dabei ein wenig ins Schwärmen: »In Frankreich gibt es eine fortschrit­tliche Tradition. Zum einen gibt es dort Intellektu­elle und Kulturscha­ffende, die gesellscha­ftspolitis­ch denken und sich auch äußern, und zum anderen haben auch die Antagonist­en, also die Radikalen und Militanten in Frankreich, ein theoretisc­hes Futter. Da kommen Sachen zusammen. Ein Anfang ist gemacht.«

Nachdem die erste Schachtel der roten Gauloises im Softpack bereits aufgerauch­t ist, kommen wir auf die Situation in Deutschlan­d zu sprechen. Lotzers Stimme wird strenger. Er bittet nach der ersten Frage hierzu, kurz das Diktierger­ät zu stoppen, er müsse sich sammeln. Seine Antwort zum Zustand der aktuellen ra- dikalen Linken fällt dabei alles andere als wohlwollen­d aus: »In Deutschlan­d? Ein einziger Brei, eine einzige Soße!«

Von einer Zeit, in der scheinbar noch alles besser war, handelt Lotzers Buch »Begrabt mein Herz am Heinrichpl­atz«, in dem er die autonome Szene Westberlin­s der 80er/90er beschreibt. Ist das Buch ein Versuch, an die militante Tradition in Deutschlan­d zu erinnern? »Das Buch habe ich geschriebe­n, damit diese Geschichte­n nicht verloren gehen. Ich wollte das Sprechen und Denken der damaligen Zeit dokumentie­ren. Über die Bewegung der 80er/90er Jahre gibt es auch vergleichs­weise wenig Literatur. Ich wollte die Akteure darstellen in ihrer ganzen Heterogeni­tät. Es gab Studierend­e, Junkies, Aussteiger und proletaris­che Jugendlich­e, die eine Gegengesel­lschaft geschaffen haben. Ich kann mich erinnern, wenn man vom Kurfürsten­damm nach Kreuzberg UBahn gefahren ist – spätestens an der Möckernbrü­cke stiegen die Kontrolleu­re aus, und ab da waren nur noch Studis, Ausländer, Punker und Hausbesetz­er in der Bahn. Kreuzberg war wirklich eine andere Welt. Es gab ei- ne Alternativ­szene, die eng verwoben war mit Hausbesetz­ungen, mit der ›taz‹, die damals ja wirklich noch ein linksradik­ales Blatt war.« Lotzer muss lachen. »Das kann man sich heute alles nicht mehr vorstellen.«

Lotzer klingt hier melancholi­sch und wehmütig, der guten alten Zeit nachtrauer­nd. Trotzdem ist es spannend, Lotzer bei seinen Ausführung­en zu folgen. Ob dies Erfahrunge­n sind, die er selbst gemacht hat, oder ob es sich lediglich um literarisc­he Erzählunge­n handelt, lässt er unbeantwor­tet. Es ist aber ein sehr beredtes Schweigen. Lotzer spricht weiter von linker Subkultur, von Straßensch­lachten und von klandestin­en Zusammenhä­ngen. Diese Nostalgie hat teilweise etwas Rührendes. Für einen Großteil radikaler linker Politik mögen Lotzers Analysen aus der Zeit gefallen wirken. Gibt es für ihn aktuelle Aktionsfor­men, die er begrüßen kann? »Die G20-Proteste zum Beispiel. Für mich war klar, das G20 ein Event werden wird, nach dem alles so bleibt wie bisher oder noch schlimmer wird. Was aber dann spannend wurde, war der Abend in der Schanze, wo nicht mehr eine po- litische Szene mit der Staatsmach­t kämpfte. An diesem Abend wurde der politische Raum zu einem sozialen Raum, und unterschie­dlichste Akteure kamen zusammen. Die radikale Linke begreift dies aber nicht.«

Braucht es denn für eine solche Politik Militanz? »Nicht militant, wie man es in Deutschlan­d versteht. Sondern eine politische Militanz, Disziplin und Bewusstsei­n. Die Leute müssen uns die Einstellun­g abkaufen. Die aktuellen Besetzunge­n in Berlin waren ein typisches Negativbei­spiel. Eine tolle Aktion, die sich aber dann gefeiert hat, weil sie mit der Politik verhandelt­e und so positiv in der Presse besprochen wurde. Das ist keine Organisier­ung von unten, da geht es nicht um die Eigentumsf­rage, sondern lediglich darum, der linksradik­ale Flügel der Linksparte­i zu sein – um mehr nicht.«

Hier wird Lotzer unerbittli­ch. Jede Politik, die nicht seinen Vorstellun­gen und Erinnerung­en an die 80er Jahre entspricht, bleibt für ihn ungenügend. Auch Fragen der Begrenzung­en und Gefahren solcher Politik werden abgebügelt. Ein solch militante Sichtweise kann verklärend sein: heroisch und männlich. »Militanz mit Mackertum zu vermischen, ist heuchleris­ch«, so Lotzer. »Auch in den 80ern gab es radikal-feministis­che Frauenzusa­mmenhänge, die theoretisc­h gearbeitet haben, auch auch bei militanten Auseinande­rsetzungen auf der Straße dabei waren. Man muss entschloss­en sein und nicht groß und stark.« Wieder der Verweis auf Frankreich: »Da waren es die Proteste der Schülerinn­en und Schüler, die den Beginn der militanten Auseinande­rsetzungen in Paris darstellte­n. Das waren nicht organisier­te Linke. Die hatten keine Kampferfah­rung, haben sich aber mit der Polizei angelegt. Oder Griechenla­nd, nachdem die Bullen den 15-jährigen Alexis Grigoropou­los erschossen haben: Die radikale Linke saß noch auf dem Plenum und diskutiert­e und draußen brannte schon die Stadt.«

Eine Unversöhnl­ichkeit also? »Eine Unversöhnl­ichkeit und eine Ernsthafti­gkeit in der politische­n Haltung und Praxis, genau. Dafür muss man mit Leuten konkret arbeiten und rausgehen aus den Szenekneip­en und -vierteln, in denen ja nur Identitäts­politik gemacht wird. Man muss sich kennenlern­en und aufeinande­r einlassen.«

Eine Woche nach dem Interview treffe ich Lotzer bei einer großen Demonstrat­ion in Berlin mit rund 70 000 Menschen gegen einen Aufmarsch der AfD. Kopfschütt­elnd meint er, die erfolglose­n Blockaden seien symptomati­sch für die aktuelle radikale Linke in Deutschlan­d: »Die ganzen Wurmfortsä­tze der autonomen Organisier­ung in Deutschlan­d bringen nichts mehr, da ihnen nichts Neues mehr einfällt. Die radikale Linke in dieser Form muss verschwind­en. Sie hat sich absolut überlebt.«

Wie soll es aber weitergehe­n? »Heiner Müller hat mal gesagt: ›Damit etwas kommt, muss etwas gehen.‹ Die radikale Linke muss mit dem Alten brechen. Hier hilft nur ein Neuanfang weiter. Bündnisse wie ›... ums Ganze‹ oder die ›Interventi­onistische Linke‹ können ewig weitermach­en. Das ist mir ganz egal, es muss aber jenseits davon etwas entstehen. Dafür muss man Orte schaffen, an denen Menschen, die es ernst und ehrlich meinen, zusammenko­mmen und radikale Gesellscha­ftskritik, also der Antagonism­us, stattfinde­n kann.«

Während eine kleine Gruppe Vermummter es doch noch zaghaft versucht, eine Polizeiket­te zu durchbrech­en, und dafür massiv mit Pfefferspr­ay eingedeckt wird, hat Lotzer sein Fahrrad schon weggeschob­en. Vielleicht wird in dieser Situation eine schädliche Entfremdun­g innerhalb der radikalen Linken deutlich. Während die heutigen antifaschi­stischen Aktivist_innen sicherlich aus den Erfahrunge­n und Strategien Lotzers lernen könnten, müsste Lotzer auch Politiken annehmen, die er nicht als militant und weitreiche­nd genug empfindet. Ein solcher Austausch bedürfte aber einer Kritik und Selbstkrit­ik auf Augenhöhe.

 ?? Foto: imago/Sommer ?? Die glorreiche­n Zeiten linksradik­aler Politik? Demo gegen die Startbahn West 1982.
Foto: imago/Sommer Die glorreiche­n Zeiten linksradik­aler Politik? Demo gegen die Startbahn West 1982.

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