Ansteckende Gefühle
Unter Traumata leiden oft nicht nur die direkt Betroffenen.
Therapeuten, Pfleger und Angehörige von traumatisierten Menschen zeigen häufig ebenfalls Symptome der Traumatisierung. Wissenschaftler suchen nach Erklärungen dafür. Dass Infektionskrankheiten ansteckend sind, ist einfach zu erklären. Bei engem Kontakt können die krankheitsauslösenden Viren oder Bakterien von einem Menschen auf einen anderen übertragen werden. Psychische Erkrankungen fallen gewöhnlich nicht in diese Kategorie. Dennoch häufen sich die Hinweise, dass unter den traumatischen Folgen von Krieg, Terror oder sexueller Gewalt nicht nur die unmittelbar Betroffenen leiden. Vor allem die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung können auch auf andere Menschen gleichsam überspringen und werden teilweise sogar vererbt.
Als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bezeichnet man eine psychische Erkrankung, die im Anschluss an ein extrem schockierendes oder bedrohliches Ereignis auftritt. Sie geht zumeist mit einer vegetativen Übererregung einher, die zu Aufmerksamkeitsdefiziten, Schlafstörungen und Konzentrationsschwächen führt. Hinzu kommen sogenannte Flashbacks. Das sind belastende Bilder oder Eindrücke von traumatischen Ereignissen, die sich der Erinnerung immer wieder aufdrängen. Um möglichen Anlässen hierfür zu entgehen, ziehen sich viele Betroffene aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Sie wirken lustlos und verlieren das Interesse an Dingen, die ihnen zuvor wichtig waren.
Aber auch Menschen, die regelmäßig in Kontakt mit traumatisierten Personen stehen – Partner, Familienangehörige, Therapeuten, Pflegekräfte – zeigen ähnliche Auffälligkeiten, sodass man meinen könnte, sie hätten sich angesteckt. Manche werden sogar von Flashbacks geplagt, obwohl es gar nicht ihre eigenen traumatischen Erlebnisse sind, die sie dabei durchleben. Mediziner sprechen hier von einer »sekundären Traumatisierung«, für deren gesicherten Nachweis es allerdings noch weiterer empirischer Belege bedarf. Gleichwohl heißt es in der aktuellen Ausgabe des US-Klassifikationssystems für psychiatrische Erkrankungen DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), dass für die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung die betreffende Person an den traumatischen Ereignissen nicht selbst beteiligt ge- wesen sein muss. Mitunter genügt es, wenn sie als Augenzeuge dem schockierenden Geschehen beiwohnte oder hinterher mit Einzelheiten desselben konfrontiert wird.
Bleibt die Frage, wie eine sekundäre Traumatisierung oder psychische Ansteckung vonstattengeht. Eine befriedigende Antwort darauf gibt es bisher nicht. Es gibt jedoch einige bedenkenswerte Hypothesen. So erklärte etwa die an der Universität Groningen forschende Psychologin Judith Daniels gegenüber dem OnlineWissenschaftsportal »Spektrum«: »Die Gehirnregionen, die visuelle Vorstellungen verarbeiten, überlappen sehr stark mit Regionen, die auch visuelles Wiedererleben verarbeiten.«
Auf einer gewissen Steuerungsebene sei es für das Gehirn deshalb egal, ob die Bilder durch das Auge und den visuellen Nerv oder durch eigene Vorstellungskraft erzeugt würden. Daher könnten auch vorgestellte Bil- der im Kopf zu psychischen Belastungen führen. Damit dies geschieht, sind natürlich bestimmte Voraussetzungen nötig. Die wichtigste ist laut Daniels eine hohe Empathiefähigkeit. Oder anders ausgedrückt: Menschen, die sich in die Gefühle anderer hineinversetzen und diese intensiv nacherleben können, zeigen häufiger Symptome einer sekundären Traumatisierung als weniger empathische Personen.
Wie neuere Untersuchungen belegen, sind traumatische Erlebnisse nicht nur ansteckend, sie können auch das Erbgut nachhaltig beeinflussen – Stichwort Epigenetik. Durch prägende Umwelterfahrungen wird zwar nicht der eigentliche genetische Code, sprich die Basenfolge der DNA, verändert, dafür jedoch die Aktivität verschiedener Gene. Dies geschieht unter anderem durch Methylierung. Dabei werden an bestimmten Stellen der DNA chemische Marker angehängt, sogenannte Methylgruppen, die über die Genaktivität zugleich die Produktion von Proteinen in der Zelle regeln. In verschiedenen Methylierungsmustern der DNA bilden sich so individuelle Umwelterfahrungen eines Organismus ab.
Wie stark traumatische Ereignisse in epigenetische Prozesse eingreifen können, hat Rachel Yehuda vom Mount Sinai Hospital in New York gezeigt. Sie und ihre Kolleginnen analysierten die Gene von 32 jüdischen Frauen und Männern, die während des Zweiten Weltkriegs unsägliches Leid erfahren hatten. Sie waren in Konzentrationslagern gefangen, wurden misshandelt oder mussten sich verstecken. Bei den meisten von ihnen registrierten die Forscherinnen epigenetische Veränderungen in einem Gen namens FKBP5. Es bestimmt, wie wirkungsvoll der Körper auf Stresshormone reagieren kann. Diese Veränderungen könnten ein Grund dafür sein, warum die Holocaust-Überlebenden in ihrem weiteren Leben psychisch belastbarer waren als andere Menschen sowie widerstandfähiger gegen Krankheiten.
Und noch etwas stellte sich heraus: Das FKBP5-Gen ist auch bei den Kindern der Holocaust-Überlebenden oft auffällig methyliert, obwohl diese keine so schlimmen Erfahrungen gemacht hatten wie ihre Eltern. Man darf daher annehmen, dass die veränderte Reaktion auf stressauslösende Faktoren in der Generationenfolge vererbt wurde. Zum Vergleich analysierten die Forscherinnen das FKBP5-Gen in jüdischen Familien, die während der Nazi-Diktatur außerhalb Europas in Sicherheit gelebt hatten. Hier waren weder bei den Eltern noch bei den Kindern epigenetische Veränderungen nachweisbar.
Bisher weiß niemand, wie sich die epigenetische Vererbung im Einzelnen vollzieht. Einem Forscherteam um Isabelle Mansuy von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich scheint nun jedoch ein wichtiger Durchbruch gelungen zu sein. Im Experiment stellten die Wissenschaftler fest, dass traumatischer Stress den Körper veranlasst, vermehrt kurze RNA-Moleküle freizusetzen, die mitunter ihren Weg bis in die Spermien finden. Gewöhnlich übernehmen diese microRNAs regulierende Aufgaben in den Zellen. Sind sie jedoch ungleichmäßig verteilt, führen sie unter anderem zu Störungen der Nervenfunktionen. »Mit den microRNAs in Spermien haben wir erstmals einen Informationsträger entdeckt, über den Traumata vererbt werden können«, sagt Mansuy, die überzeugt ist, dass der beschriebene Mechanismus auch bei Eizellen funktioniert. »Die Umwelt hinterlässt Spuren im Gehirn, in den Organen und Keimzellen. Über die Keimzellen werden die Umwelterfahrungen dann epigenetisch von einer Generation an die nächste weitergegeben.« Eine Frage freilich bleibt. Mansuy hat ihre Erkenntnisse im Experiment mit gestressten Mäusen gewonnen. Ob im menschlichen Körper ähnliche epigenetische Prozesse ablaufen, ist noch zu klären.
Traumatische Erlebnisse sind nicht nur ansteckend, sie können auch das Erbgut nachhaltig beeinflussen.