Wie der 17. Juni 1953 Ulbricht die Macht rettete
Der Historiker Siegfried Prokop präsentierte in Potsdam neue Erkenntnisse zum »Volksaufstand«
Der sowjetische Geheimdienstchef Lawrenti Berija plante 1953, die DDR zu »verkaufen«, berichtet Siegfried Prokop. Die Unruhen des 17. Juni kamen dazwischen – und die DDR blieb, wie sie war. Kann man zum 17. Juni 1953 überhaupt noch etwas Neues sagen? Dreimal ja, und nicht allein, obwohl der Tag seit Jahrzehnten im Gedenkkalender seinen unverrückbaren Platz hält, sondern genau deswegen. Was die Bundesrepublik für gedenkwürdig hält, ist zu hinterfragen, denn es sind verlässlich eher flache Mythen, in denen ein historisches Ereignis gleichsam eingeschmolzen ist.
Während der 17. Juni 1953 in der DDR lange als faschistischer beziehungsweise konterrevolutionärer Putsch dargestellt wurde, ist in der Bundesrepublik offiziell vom »Volksaufstand« die Rede, in besonders pathetischen Momenten vom »Arbeiteraufstand«.
Auf ganz andere Aspekte des
17. Juni machte der langjährige Vorsitzende der brandenburgischen Rosa-Luxemburg-Stiftung, Professor Siegfried Prokop, aufmerksam, als er jetzt im Vorfeld des Jahrestags des
17. Juni in Potsdam Ergebnisse seiner eigenen Forschung präsentierte und dabei einen Blick hinter die Kulissen der damaligen Politik warf.
Zunächst setzte Prokop sich mit der These vom »Arbeiteraufstand« auseinander und einer vom Westen hartnäckig behaupteten Geschichte, der zufolge an diesem Tag 49 sowjetische Soldaten und Offiziere getötet worden seien. »Kein einziger kam ums Leben, das ist bewiesen«, sagte Prokop. Von Bedeutung sei vielmehr etwas anderes gewesen. Er verwies auf die Situation im Machtzirkel der Sowjetunion kurz nach dem Tod von Josef Stalin. Was dort – übrigens unter maßgeblicher Mitwirkung von Ge- heimdienstchef Lawrenti Berija – vorbereitet worden sei, bezeichnete Prokop als »den ersten Versuch, die DDR zu verkaufen«. In Moskau habe es zwischen Ende Mai und Ende Juni 1953 eine »andere Deutschlandpolitik« gegeben. Deren Ziel sei es gewesen, SEDChef Walter Ulbricht und DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl zu stürzen und eine bürgerliche Regierung zu installieren, deren maßgebliche Positionen von der LDPD – einer der DDR-Blockparteien – besetzt werden sollten.
Das habe laut Prokop in abgrundtiefem Widerspruch zum bisherigen Moskauer Kurs gestanden. Stalin habe die Absicht verfolgt, die Kasernierte Volkspolizei aufzurüsten. Sein illusorisches Vorhaben, sie »genauso stark zu machen wie die Bundeswehr«, verlangte der DDR ein völlig überzogenes Rüstungsbudget ab. Wladimir Semjonow, Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland, hatte kurz zuvor enorme Rüstungsbelastungen in Höhe von 1,5 Milliarden Mark für die DDR angewiesen. Das habe eine zusätzliche Belastung für die DDR dargestellt, der ohnehin ihre »sehr teure« Verwaltungsreform (die Länder wurden Bezirke, die Landkreise kleiner) schwer zu schaffen machte.
Die pauschal verfügte Normerhöhung um 20 Prozent bedeuteten für die keineswegs finanziell verwöhnten Werktätigen eine Lohnkürzung. Vergünstigungen wie der Arbeiterrückfahrkarte wurden gestrichen, Preise erhöht, Bauern der Selbstversorgung überantwortet. Bei der Lohnauszahlung am 10. Juni hatten die Arbeiter im Schnitt zehn Prozent weniger in der Lohntüte, was angesichts der schmalen Löhne damals als »außerordentlich hart« empfunden worden sei.
Ins Reich der Legenden verwies Prokop die beständig wiederholte Auffassung, der Führungszirkel der SED sei von den Ereignissen überrascht worden. Vielmehr habe das SED-Politbüro »durchaus eine ernste Lage« erkannt und diskutiert. Zu diesem Zweck wurde eine Kommission gebildet, der auch der spätere SPD-Alterspräsident des brandenburgischen Landtags Gustav Just angehörte. Zwar kam es am 16. Juni zu einer offiziellen Rücknahme der Normerhöhungen, doch konnte das den Gang der Ereignisse nur noch punktuell stoppen.
Die Frage, wem hier was genützt hat, was hier von wem von langer Hand gesteuert worden ist und wer sich in welcher Einschätzung geirrt hat, stellt sich für Prokop. Hatte der Aufstand das »Ziel«, die »oberste Garnitur beiseitezuschieben und Ulbricht zu stürzen«? Oder – im Gegenteil – spielte hier eine Gruppe Hasard und der Verlauf des Tages ihr so in die Hände, dass auch Moskau die Finger von »Korrekturen« ließ? Tatsächlich und faktisch bedeutete die Eruption des 17. Juni in der Konsequenz eine Rettung der Herrschaft von Walter Ulbricht. Diese Zuspitzung erhielt die DDR so, wie sie war. Sicher mit wesentlichen Einschränkungen, denn es kam zu verschiedenen innen- und sozialpolitischen Änderungen im Interesse der DDR-Bürger.
In der Moskauer Führung wurde vom »neuen Kurs« Abstand genommen. Berija wurde erschossen, danach versprach sich der engere Führungszirkel im Kreml, solche Methoden nicht länger anzuwenden. Dass Stalins schlimmster Handlanger Berija als liberaler Hoffnungsträger des 17. Juni wahrzunehmen ist und dass er deshalb dran glauben musste und nicht wegen seiner zutiefst verbrecherischen Handlungen in all den Jahren davor, das ist eine der Facetten des 17. Juni.
Gustav Just schrieb in seinen Memoiren: »So gesehen, haben wir keinen Grund, den 17. Juni als einen Ruhmestag zu feiern ... Ohne diesen Tag wäre, davon bin ich überzeugt, der Neue Kurs radikal umgesetzt worden und hätte Entwicklungen in Gang gesetzt, deren Reichweite man sich heute kaum vorstellen kann. So treibt die Geschichte eben manchmal ein makaberes Spiel: die Demonstranten wollten Ulbricht stürzen und verhalfen ihm stattdessen, sich an der Macht zu halten – sogar noch ungefährdeter als zuvor.«