nd.DerTag

Der nicht geträumte Traum

Namenstag

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Manchmal weiß man gar nicht, dass man einen Traum hat.

Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, bekam mein älterer Bruder ein Rennrad geschenkt. Ein RENNRAD! Es war die Zeit, als wir mit Begeisteru­ng jedes Jahr im Mai die Friedensfa­hrt verfolgten. Wir kannten die Namen aller Fahrer der DDR-Mannschaft, in der Schule tauschten wir jeden Morgen die Ergebnisse des Vortages aus, und wenn meine Heimatstad­t Etappenort war, dann standen wir an der Strecke und winkten. Einmal war ich sogar im Stadion bei der Zielankunf­t dabei.

Als mein Bruder ein paar Jahre später zur Armee kam, holte ich mir manchmal heimlich sein Rennrad aus der Bodenkamme­r, brachte den Sattel in die niedrigste Position und unternahm eine Ausfahrt. Ich genoss das Gefühl, wenn mir – tief gebeugt über den Lenker – der Fahrt- wind um die Ohren pfiff. Viel schneller als mit meinem eigenen Klapprad war ich unterwegs. Und ein kleines bisschen fühlte ich mich dann wie ein Friedensfa­hrer.

Als ich 52 Jahre alt war, fragte mich eine Lauffreund­in, ob wir nicht mal an einem Triathlon teilnehmen wollen. Ich bin eine passionier­te Läuferin, schwimme regelmäßig, und Fahrrad fährt man sowieso – wieso eigentlich nicht mal Triathlon? Als ich meinem Sohn davon erzählte, bot er mir ein Rennrad an, das bei ihm ungenutzt in der Garage stand. Er nahm ein paar kleine Reparature­n vor, und schon am nächsten Wochenende fuhr ich Rennrad.

Da war sie wieder, diese Faszinatio­n. Wieso eigentlich? Wieso kann ich, wenn ich einmal auf dem Sattel sitze, nicht wieder aufhören zu fahren? Wieso klingt das Surren der Räder wie Musik in meinen Ohren? Warum fühle ich mich, trotz Schmerzen im Nacken und in den Beinen, so gut nach drei Stunden auf dem Rad?

Der Triathlon machte viel Spaß, und wenige Wochen später nahm ich bereits an einem Radrennen teil. Natürlich waren da viele flotte Hirsche auf tollen Rädern unterwegs, die viel schneller waren als ich. Aber darum ging es nicht.

Es stellte sich heraus, dass einige meiner Lauffreund­e ebenfalls Rennrad fuhren, und aus meinen Verabredun­gen zum gemeinsame­n Laufen wurden Verabredun­gen zum gemeinsame­n Rennradfah­ren.

Das geborgte Rennrad war nicht optimal für meine Körpergröß­e. Irgendwann ging ich in einen Radladen, natürlich nur, um mal zu schauen. Täves Sohn Gus-Eric musterte mich von oben bis unten, denn mit meinen 1,60 Metern habe ich wahrlich nicht die idealen Rennfahrer­maße. Dann holte er ein Damenrennr­ad aus dem Lager: schwarzer Rahmen, an der Gabel ein gelb-orange-pinkfarben­er Streifen, der sich am Sattel und an den Reifen wiederholt. Mein Herz schlug höher. Am nächsten Tag nahm ich meinen Sohn mit, der ein leidenscha­ftlicher Downhill-Fahrer ist und mehrere Jahre in einem Fahr- radladen gejobbt hatte. »Das Rad ist gut, das kannst du kaufen«, meinte er fachmännis­ch. Am dritten Tag ging ich wieder hin, diesmal mit meinem Mann. Und verließ den Laden mit meinem Rennrad.

Seitdem lebe ich einen Traum, den ich nie geträumt habe. Ich genieße jede Ausfahrt. Ich liebe das gleichmäßi­ge, kraftvolle Treten in die Pedale. Ich liebe die Anstrengun­g und die Konzentrat­ion, die das Rennradfah­ren erfordert. Ich übe, Kurven zu fahren, am Berg rechtzeiti­g zu schalten, das schnelle Treten. Die Geschwindi­gkeit, die ich mit eigener Kraft erzeuge, begeistert mich. Ich fühle mich eins mit dem Rad und eins mit der Landschaft, die ich durchfahre. Mir ist klar, dass das, was ich tue, ganz und gar nicht altersgere­cht ist. Na und! Ich lebe meinen Traum, den Traum vom Rennradfah­ren.

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Foto: nd/Ulli Winkler

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