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Türkei: Vier Tote bei AKP-Wahlkampf

Vertreter der HDP unter den Opfern

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Istanbul. Während eines Wahlkampfr­undgangs eines Regierungs­abgeordnet­en sind im Süden der Türkei in der kurdischen Stadt Suruç vier Menschen getötet und acht weitere verletzt worden. Am Donnerstag kam es zum Streit zwischen Ladenbesit­zern und dem AKPAbgeord­neten Ibrahim Halil Yıldız, wie türkische Medien berichtete­n. Regierungs­nahen Medien zufolge seien Yıldız und seine Anhänger von Opposition­ellen angegriffe­n worden. Präsident Erdoğan machte die verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) verantwort­lich. In Berichten prokurdisc­her Medien hieß es dagegen, die Leibwächte­r des Abgeordnet­en seien für die Tat verantwort­lich. Sie hätten geschossen, nachdem Yıldız von Händlern unfreundli­ch empfangen worden sei. Örtlichen Medienberi­chten zufolge wurde ein Bruder von Yıldız getötet. Auch Vertreter des lokalen Ablegers der Linksparte­i HDP seien unter den Opfern.

Noch eine Woche bleibt bis zu den vorgezogen­en Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen am 24. Juni. Je näher dieser »Tag des Schicksals« rückt, desto mehr steigt die Spannung. Werden Erdoğan und seine AKPartei, die seit 16 Jahren an der Macht sind, die Wahlen erneut gewinnen? Viele Umfragen sagen voraus, dass es Erdoğan nicht gelingen wird, in der ersten Runde die Präsidents­chaftswahl für sich zu entscheide­n und dass es der Allianz von AKP und rechter MHP auch nicht möglich sein wird, die absolute Mehrheit im Parlament zu erringen.

Die Hauptgründ­e dafür sind: steigende Arbeitslos­igkeit, Armut, die rasante Abwertung der türkischen Lira, der Aufbau eines autoritäre­n Regimes und das Fehlen eines Projektes, das die Bevölkerun­g begeistert. Zudem sind die Kandidaten, die gegen Erdoğan antreten, stark. Der linksnatio­nalistisch­e Kandidat der Republikan­ischen Volksparte­i CHP, Muharrem İnce, beispielsw­eise hat mit seiner bisherigen Leistung viel Anerkennun­g erlangt. Es sieht so aus, als habe er mit seiner nicht auf Spaltung setzenden, sondern vereinigen­den Art – gepaart mit feinem Humor – Erdoğans Pläne durchaus gestört.

Denn aufgrund des erfolgreic­hen Wahlkampfe­s von İnce dürften die Präsidents­chaftswahl­en in die Stichwahl gehen. Und wenn sich Erdoğan und İnce am 8. Juli in einer zweiten Runde zur Wahl stellen,

werden die Stimmen der kurdischen Wähler und der progressiv­en linken Kräfte das Zünglein an der Waage sein.

Bei der Abstimmung über die Aufhebung der Immunität von HDPAbgeord­neten 2016 lehnte İnce die Zusammenar­beit mit der AKP ab. Auch besuchte er Selahattin Demirtaş im Gefängnis, nachdem dieser als Präsidents­chaftskand­idat von der Demokratis­chen Partei der Völker HDP nominiert worden war. Dies brachte ihm Sympathien bei kurdischen Wählern ein. Aus diesem Grund konnten sich kürzlich auch Tausende bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng von İnce in Diyarbakır zusammenfi­nden, wo die CHP seit Jahren keine großen Versammlun­gen hatte durchführe­n können. Die Tatsache, dass İnce in Diyarbakır – in der Hauptstadt der Kurden der Türkei – mehr Menschen mobilisier­en konnte, stört Erdoğan. Sowohl er als auch İnce wissen, dass der Schlüssel zur Präsidents­chaft in den Händen von Demirtaş und den Kurden liegt.

Und diese wiederum scheinen die Entscheidu­ng getroffen zu haben, in der Stichwahl auf das Ende des Erdoğan-Regimes zu setzen. Erdoğan kann nicht mehr einfach wie früher Stimmen unter kurdischen Wählern mobilisier­en. Also droht er und verbreitet Angst. Kurz vor dem Wahltermin wurde mit einer Militärope­ration gegen die PKK in den Kandil-Bergen begonnen, Erdoğan tönte, sie dort in einer Woche besiegen zu können – was ihm ihn 16 Jahren nicht gelang. Er versucht, die nationalis­tischen Wähler zu mobilisier­en, indem er öf- fentlich versprach, im Fall eines Wahlsieges Demirtaş hinrichten lassen zu wollen. Erdoğan arbeitet so mit aller Kraft daran, zu verhindern, dass die HDP die Zehn-Prozent-Hürde nimmt und damit wieder den Sprung ins Parlament schafft. Auch deswegen wird die Stimmabgab­e in den kurdischen Dörfern unter dem Vorwand des Ausnahmezu­standes fast unmöglich gemacht. Anderersei­ts wissen Kurden, Progressiv­e und Demokraten, dass der einzige Weg, Erdoğan eine Niederlage zu bescheren, darin besteht, die HDP wieder ins Parlament einziehen zu lassen. Darum werden viele Menschen für die HDP stimmen.

Eine Woche vor den Wahlen ist die Hoffnung gewachsen, dass Erdoğan diesmal verlieren könnte. Der Wahlkampf war nicht so einfach, wie der Präsident sich das gedacht hatte. Während er bestrebt war, seine Macht mit vorgezogen­en, überfallar­tigen Wahlen zu festigen, steht er nun vor einem Verlust an Wählerstim­men. Wird sich die Stimmung auf den Straßen und in den Umfragen an den Wahlurnen bemerkbar machen? Wir werden abwarten und sehen.

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

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