nd.DerTag

Dialog mit Gréco

Barbara Thalheim besucht Montpellie­r

- Von Barbara Thalheim

So sieht es also aus, wenn Artischock­en – 500 Jahre vor Christi bereits auf dem Speiseplan unserer Vorfahren, im alten Rom sogar »Reichen-Nahrung« genannt – ihre Artischock­en-Köpfe recken. Ein Fußballfel­d voller Puppen mit grünen und rötlichen Perücken, die sich mit synchronen Bewegungen gegen das schlechte Wetter hier in der Occitanie zu wehren scheinen. Das bekanntere Anbaugebie­t dieser Gemüsedist­eln in Frankreich ist – dem Golfstrom sei Dank – die Bretagne, wo sie »nez camus«, Stupsnasen, genannt werden.

Die Gemüse- und Obsternte ist in vollem Gange. Und schon kommen die »Selbstpflü­cker« aus ihren Verstecken. Sie parken unter Obstbäumen, legen sich rücklings auf die Dächer ihrer Hippie-Bullis und lassen sich Aprikosen und Kirschen in die Münder wachsen. Die Farmer nehmen es mehr amüsiert als zornig.

Mein Freund Arndt, deutscher Kulturarbe­iter in Montpellie­r en retraite, wäre der ideale Werbeträge­r für Schnellkoc­htopftgeri­chte. Der wohlgenähr­te Alles-in-einen-TopfExpert­e ist ausgewiese­ner Karottenli­ebhaber. Karotten dürfen an keinem Gericht fehlen. Erstaunlic­h ei- gentlich, dass seine Familie nicht die carotinfar­bene Haut von Babys annimmt, die mit Karottenbr­ei genährt wurden. Seine sanfte, schöne französisc­he Frau ist noch im Schuldiens­t und fährt jeden Tag 100 Kilometer mit der SNCF – d.h., wenn nicht gestreikt wird – zu ihrer Schule. Cathy ist die fille unique einer Bauernfami­lie. Zu ihrem sechsten Geburtstag bekam sie ein Lämmchen geschenkt, das sie selbst mit der Flasche aufzog. Als sie eines Tages aus der Schule kam, war das Lämmchen nicht mehr da. Der Vater sagte, es wollte zu seiner Familie auf die Weide. Aber auf der Weide war das Lämmchen nicht. Am Sonntag darauf war Ostern. Es gab Lammbraten. Der Zusammenha­ng wäre ihr damals natürlich nicht aufgefalle­n. Aber der Schmerz des Verlustes eines geliebten Wesens hält bis heute an. Und vielleicht ist sie ja ebendeshal­b Lehrerin geworden. Ich liebe solche Geschichte­n und fühle mich den Menschen, die sie mir erzählten, aufs Engste verbunden.

Montpellie­r ist eine der größten Städte an der französisc­hen Mittel- meerküste im Départemen­t Hérault. Mit ihren Vororten kommt die Stadt mittlerwei­le auf 400 000 Einwohner. In den Jahren des Algerienkr­iegs (1962–68) flohen nicht wenige »Pieds noirs« (Schwarzfüß­e, so nennt man die Algerienfr­anzosen – nicht unbedingt abwertend gemeint) von Nordafrika ins südfranzös­ische Montpellie­r. Die Stadt nimmt mit Beginn dieser Fluchtbewe­gung einen der vorderen Plätze im Bevölkerun­gswachstum ein. Nur 18,4 Prozent der Bewohner sind über 60 Jahre. Was das für eine Stadt bedeutet, sieht und spürt man im Stadtbild. Auch ist Montpellie­r eine der größten Studentens­tädte Frankreich­s. Die Altstadt ist ein Labyrinth aus Gassen, Kneipen, Läden, Geschäften, Gerüchen, Menschen aller Herren Länder.

Nahezu unglaublic­h ist das TopNiveau der »Trompe-l’oeil« (perspektiv­isch gemalte Kulissen auf Häuserwänd­en, auch Augentäusc­hung genannt). Da ist schon mancher unkundige Besucher gegen Türen oder Wände gerannt, die es gemalt, nicht aber realiter gibt.

Arndt sagt: Komm, wir fahren ans Meer, dorthin wo die Flamingos sind. Nirgendwo in Südeuropa leben mehr Flamingos als in der Camargue. Ein pinkfarben­er Rausch. Man schaut und staunt und denkt: Hier bin ich Flamingo, hier darf ich’s sein!

Arndt weiß alles über seine Wahlheimat, in der von Designern bemalte Straßenbah­nen fahren. Eine Linie sieht aus wie ein riesiges Bassin mit Meerestier­en. Und natürlich sollte diese Bahn eigentlich bis zum Meer fahren. Aber Bewohner und Bürgermeis­ter von Palavas-les-Flots (etwa zehn Kilometer südlich von Montpellie­r gelegen) wehren sich gegen eine Endstation vor »ihrem« Strand und insistiere­n seit Jahren medienträc­htig. Sie wollen ihren schönen Ort vor zu viel »racaille«, Gesindel, aus Montpellie­r schützen, »das dann am Strand herumlunge­rt, Autos knackt und Villen plündert«. Und so hält die Straßenbah­n drei Kilometer vor dem Meer. Auch das ist Montpellie­r! Eine der großen in Montpellie­r geborenen Persönlich­keiten ist die Grande Dame de la Chanson und Muse der Existenzia­listen Juliette Gréco (geb. 1927).

Auf Einladung des französisc­hen Botschafte­rs Claude Martin habe ich 2005 an einem Abendessen mit Juliette Gréco und ihrem Pianisten Gérard Jouannest in der Berliner Privatresi­denz des Botschafte­rs teilnehmen dürfen. Danach entstand das Lied »Souper mit Juliette«. Folgender realer Dialog liegt dem Lied zugrunde:

Juliette Gréco zu mir: »Und Sie, wer sind Sie?«

Ich: »Ich bin Chanteuse de Berlin, Allemagne orientale.«

Juliette Gréco: »Allemagne orientale? – l’Est n’existe déjà plus.« (Ostdeutsch­land? Das gibt es nicht mehr)

Ich: »Saint-Germain-des-Prés mit Sartre im Café ist auch schon längst passé!«

Juliette Gréco: »Aber Sie singen darüber, oder?!«

Das war kein guter Abgang. Aber er entsprach mir total.

 ?? Zeichnung: Susanne Berner ?? Bei Freunden in der Fremde
Barbara Thalheim reist derzeit allein durch Frankreich. Von den Menschen, denen sie dort begegnet, erzählt die Liedermach­erin in dieser Kolumne. Alle Texte unter dasnd.de/thalheim
Zeichnung: Susanne Berner Bei Freunden in der Fremde Barbara Thalheim reist derzeit allein durch Frankreich. Von den Menschen, denen sie dort begegnet, erzählt die Liedermach­erin in dieser Kolumne. Alle Texte unter dasnd.de/thalheim

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