nd.DerTag

Mythos, Phantom, Utopie

Zwei Tage diskutiert­en und stritten sich Historiker über die deutsche Wolgarepub­lik

- Von Karlen Vesper

Es ging hitzig zu – für eine wissenscha­ftliche Tagung eher ungewöhnli­ch. Anlässlich des 100. Jahrestage­s der Gründung der deutschen Wolgarepub­lik luden die Deutsche Gesellscha­ft und die Landsmanns­chaft der Deutschen aus Russland in das Berliner Domizil der Bundesstif­tung zur Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur.

Gemäß einem Dekret der jungen Sowjetregi­erung vom 19. Oktober 1918 bildeten die Wolgadeuts­chen innerhalb der RSFSR zunächst eine Arbeitskom­mune. Am 13. Dezember 1923 stimmte das Politbüro der KPR(B) deren Bitte zu, eine Autonome Sozialisti­sche Sowjetrepu­blik (ASSR) gründen zu dürfen, die dann am 6. Januar 1924 proklamier­t wurde. Das Aus für dieses einzigarti­ge sozialisti­sche Experiment kam erneut per Dekret, diesmal vom Obersten Sowjet der UdSSR am 28. August 1941: »Über die Umsiedlung der in den Rajons der Powolschje lebenden Deutschen«. An der Wiege wie am Totenbett der Wolgarepub­lik stand Stalin, der Nationalit­ätenkommis­sar und spätere Generalsek­retär der KPdSU.

Wieso wurde den Wolgadeuts­chen überhaupt eine eigene Republik zugestande­n? Als Schaufenst­er gen Westen, um die Weltrevolu­tion zu befördern, wie Victor Dönninghau­s, Vizedirekt­or des Nordost-Instituts in Hamburg, meinte? Oder im Kontext der deutsch-russischen Annäherung von Rapallo 1922 und des gescheiter­ten Deutschen Oktobers im Jahr darauf, wie Natalia Donig von der Universitä­t Passau einwarf. Verstanden sich die Wolgadeuts­chen als eigenständ­iges Volk oder als Sowjetbürg­er, was Frank Golczewski von der Hamburger Universitä­t vermutete? Warum strahlte diese Republik eine derartige Faszinatio­n aus, dass noch der Großvater von Waldemar Eisenbraun, Bundesvors­itzender der russischen Landsmanns­chaft, davon schwärmt? Ist ihr Image ein Mythos, ein Phantom, wie Viktor Krieger, ebenfalls Lehrbeauft­rager in Hamburg, glaubt. Warum konnte sie nicht wiederbele­bt werden? Trifft die von Edwin Warketin, Kulturrefe­rent am Museum für russlandde­utsche Kulturgesc­hichte in Detmold, vorgetrage­ne These zu, die bundesdeut­sche Aussiedler­politik der 1990er Jahre habe der Utopie Wolgarepub­lik das definitive Ende beschert? Oder war es die Ignoranz der Kremlführu­ngen in der Nachkriegs­zeit, über die Alfred Eisfeld, Vorsitzend­er der Wissenscha­ftlichen Kommission für die Deutschen in Russland, berichtete?

Krieger oblag es, den historisch­en Hintergrun­d zu skizzieren. Auf Einladung von Katharina II. siedelten sich 1764 die ersten Deutschen am Flüsschen Dobrinka an. 150 Jahre später waren es ihrer bereits 570 000. Sie bevölkerte­n ein Gebiet so groß wie Rheinland-Pfalz und entwickelt­en mit wachsenden wirtschaft­lichen Erfolgen Selbstbewu­sstsein, das im Zarenreich keine Anerkennun­g fand. Weshalb unter ihnen »die Befreiungs­verspreche­n der Bolschewik­i teils Zustimmung« fanden. Sodann nannte Krieger die Wolgadeuts­chen »unfreiwill­ige Retter der Revolution« und erinnerte an die großen Hungerkata­strophen 1921/22 und 1931/32 im Wolgagebie­t. Der Berliner Historiker Wladislaw Hedeler zitierte ergänzend aus einem Augenzeuge­nbericht von Lotte Strub: »Auf den Straßen von Engels liefen spielende Kinder herum. Sie hatten große aufgedunse­ne Bäuche, die Beine und die Ärmchen waren spindeldür­r.« Hedeler widersprac­h Krieger indes, dass es wenig Begeisteru­ng in Deutschlan­d und kaum Kontakte zur Wolgarepub­lik gegeben habe, nannte neben Erich Weinert, der ein Poem auf »Das rote deutsche Wolgaland« schrieb, Bert Brecht, Willi Bredel, Friedrich Wolf, Käthe Kollwitz, Max Reinhardt und andere. Arbeiter- und Lehrerdele­gationen reisten in die Wolgarepub­lik, die nach 1933 auch ein Exil wurde.

Golczewski reflektier­te eingangs der zweitägige­n Konferenz die Nationalit­ätenpoliti­k der Bolschewik­i, die nicht genuin gewesen sei, sich tages- und machtpolit­ischen Erwägungen beugte. Er erinnerte an die am 15. November 1917 erlassene »Deklaratio­n der Völker Russlands«, die allen Nationalit­äten das Recht auf Selbstbest­immung bis hin zur Loslösung gewährte. Zu Letzterem sei es nur einmal gekommen: mit der Unabhängig­keit Finnlands 1918. Zehn Jahre darauf wurden autonome Rechte mehrerer nicht russischer Völker in der UdSSR wieder zurückgeno­mmen, da Stalin eine äußere Bedrohung annahm, auf Russifizie­rung und Zentralisi­erung setzte. Die Deportatio­nen ganzer Menschengr­uppen in den 1940er Jahren wertete Golczewski als Resultat von Paranoia und tatsächlic­her Kollaborat­ion mit den Naziaggres­soren. Daraufhin stritten die Forscher, ob Germanopho­bie, Propaganda oder Kriegsnotw­endigkeit die Wolgarepub­lik begruben.

Der Forderung von Markus Meckel von der Bundesstif­tung, die Historiker sollten die Bundesregi­erung animieren, Druck auf Russland aus- zuüben, damit sich Archive wieder öffnen und Erinnerung­sorte an einst Deportiert­e und Interniert­e entstehen, begegnete Natalia Donig von der Universitä­t Passau mit dem Hinweis, man habe gute Kontakte zu russischen Kollegen, nicht alle Archive seien dicht »und nicht alles ist schlecht«. Zudem merkte sie an: »Politisch aufgebausc­hte Aktionen führen in eine Sackgasse.« Olga Martens, Herausgebe­rin der »Moskauer Deutschen Zeitung«, wiederum verneinte Kriegers Behauptung, es gebe in Russland keine Mahnmale, Gedenkstät­ten und Museen für die deportiert­en Wolgadeuts­chen. Der Kritisiert­e korrigiert­e, er wünsche sich nicht nur in Engels und anderswo, sondern am zentralen Ort in Moskau, wo die Entscheidu­ngen fielen, Erinnerung­szeichen. Olga Martens beharrte: »Ich plädiere an die Diskutante­n, die ganzen bisherigen Erfolge unserer Assoziatio­nen nicht wegzuwerfe­n.«

Ihr Anliegen bekräftigt­e der Nikolai Ivanov von Memorial Petersburg, der das Projekt »Letzte Adresse« erläuterte, das ähnlich den Stolperste­inen in Deutschlan­d an Wohnorten von Deportiert­en Täfelchen anbringt. Trotz Wiederkehr manch stalinisti­scher Vorbehalte sei die Unterstütz­ung im Volk hierfür groß.

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Foto: akg-images Junge Pioniere der Wolgarepub­lik in Selz bei Odessa

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