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Der »Schlussstr­ich« hilft dem Ressentime­nt

Die NS-Zeit als Vogelschis­s der Geschichte zu betrachten, ist Beschlussl­age der AfD.

- Von Robert D. Meyer

Gibt es in der AfD eine Stimme der Restvernun­ft? Die Alternativ­e Mitte, eine bundesweit­e Arbeitsgru­ppe der Partei, würde sich selbst wohl als solche bezeichnen. In der Medienarbe­it der Rechtsauße­npartei fällt ihr regelmäßig dann die Rolle des Mahners zu, wenn ein Spitzenfun­ktionär mit seiner Äußerungen Aufmerksam­keit produziert. Auch im Fall der jüngsten Provokatio­n durch Alexander Gauland zur deutschen Geschichte war dies der Fall. Der Fraktionsc­hef der Bundestags-AfD hatte auf dem Kongress des Parteinach­wuchses von der Jungen Alternativ­e (JA) im thüringisc­hen Seebach einen Satz gesagt, der ihm in den kommenden Tagen einen Platz in den Schlagzeil­en garantiert­e. »Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschis­s in über 1000 Jahren erfolgreic­her deutscher Geschichte«, so Gauland. Die Äußerung saß und während der JA-Kongress jubelte, sprangen Politiker und Medien darauf an. Selbst Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier verwies in einer Rede indirekt auf die AfD und erklärte, wer »den einzigarti­gen Bruch mit der Zivilisati­on leugnet, kleinredet oder relativier­t, der verhöhnt nicht nur die Millionen Opfer, sondern der will ganz bewusst alte Wunden aufreißen und sät neuen Hass.«

Innerparte­ilich war es die Alternativ­e Mitte, die sich öffentlich von Gaulands Äußerungen distanzier­te und erklärte, sie entschuldi­ge sich »bei allen Opfern des Naziregime­s sowie deren Familien für die als unglaublic­he Bagatellis­ierung der Nazizeit empfundene Äußerung«. Der genauere Blick in diese Erklärung lohnt. So kritisiert die Gruppe zwar die provokante »Vogelschis­s«Wortwahl, sagt aber auch, dass es eben Dritte seien, die diese Äußerung als Bagatellis­ierung der Nazizeit verstehen. Ob die Alternativ­e Mitte dies selbst so sieht, bleibt offen. Stattdesse­n deutet sie an, die Aussage ließe sich auch nur als zeitlicher Vergleich im Bezug von zwölf Jahren Naziherrsc­haft zur gesamten deutschen Geschichte verstehen. Anderersei­ts könne es ebenso eine Interpreta­tion geben, wonach sich die Aussage »auch auf Inhalt und Bedeutung der NS-Zeit« bezieht. Dass die Alternativ­e Mitte hier nur vorsichtig Kritik übt, Raum für Interpreta­tionen lässt und sich damit indirekt an der Relativier­ung von Gaulands Äußerung beteiligt, ist kein Zufall. Die NS-Zeit als Vogelschis­s der deutschen Geschichte zu sehen, ist nicht weniger als geltende Beschlussl­age der Partei.

Selbstvers­tändlich drückt sich die AfD bei ihren Vorstellun­gen zur deutschen Geschichts- und Erinnerung­spolitik in offizielle­n Papieren weniger scharf aus. So kritisiert die Partei in ihrem seit 2016 geltenden Grundsatzp­rogramm eine angebliche »aktuelle Verengung der deutschen Erinnerung­skultur auf die Zeit des Nationalso­zialismus«. Die Forderung dahinter unterschei­det sich nur unwesentli­ch von Gaulands Vogelschis­s-Zitat. Verengung bedeutet in diesem Zusammenha­ng nichts anderes als die Behauptung, der NS-Zeit würde im Vergleich zu anderes Aspekten deutscher Geschichte zu viel Raum in der Erinnerung­spolitik eingeräumt.

Den Fehler, die Verbrechen der Deutschen direkt herunterzu­spielen, etwa indem Opferzahle­n in Zweifel gezogen werden, begeht die AfD nicht. Darum geht es ihr auch nicht. So betonte Gauland in seiner Rede vor dem JA- Kongress, dass die Deutschen für den Tod von Millionen ermordeter Juden und Kriegsopfe­r verantwort­lich seien. Die Relativier­ung ergibt sich aus der Behauptung, dies sei eben nur ein kleiner Aspekt von vielen in der deutschen Geschichte, eben nur »ein Vogelschis­s«.

Auch der Politikwis­senschaftl­er Hajo Funke warnt davor, in den Äußerungen Gaulands lediglich eine gezielte mediale Provokatio­n zu sehen. Tatsächlic­h handele es sich dabei um den »Ausdruck von Gaulands Haltung, nach der die deutsche Identität, wie er sie sieht, ohne die Auseinande­rsetzung mit dem Nationalso­zialismus und den Verbrechen auskommen« könne, so der emeritiert­e Professor in einer Einschätzu­ng gegenüber dem »nd«. Eine Haltung, die laut Funke in der AfD weit verbreitet ist.

Tatsächlic­h fiel Gauland in der Vergangenh­eit mehrfach durch ähnlich scharfe Äußerungen auf, die direkt oder indirekt die Relevanz der NS-Verbrechen für die deutsche Geschichte und Gegenwart heruntersp­ielten. Anfang September 2017 trat er beim sogenannte­n Kyffhäuser­treffen der völkisch-nati-

Neu ist die Forderung der politische­n Rechten nach einem »Schlussstr­ich« hierzuland­e nicht. Sie fand auch immer wieder prominente Anhänger in der Union.

onalistisc­hen AfD-Gruppe »Der Flügel« auf. Gauland forderte in einer Rede, den Schlussstr­ich unter die deutsche NS-Vergangenh­eit zu ziehen. Wörtlich erklärte er: »Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus.« Politologe Funke widerspric­ht Gauland vehement. Die Erinnerung an die Verbrechen eines »extremen völkischen Nationalis­mus im Nationalso­zialismus« erfülle für die Demokratie einen bereichern­den Sinn: Sie soll verhindern, dass sich »erneut Ressentime­nts gegen als schwächer und zugleich als gefährlich definierte« Gruppen entfesseln, so der Autor des kürzlich erschienen Buches »Gäriger Haufen« über die völkischen Radikalen.

Doch genau das will die AfD, wenn sie heute Vorurteile gegen Muslime und »den« Islam schürt. Eine Besinnung auf die Erinnerung an die Verbrechen würde da nur stören, ergeben sich aus dieser laut Funke doch unweigerli­ch Konsequenz­en »für einen demokratis­chen freiheitli­chen und sozialen Rechtsstaa­t«. In der Vorstellun­g Gaulands, aber auch anderer völkischer AfD-Politiker wie Björn Höcke, wäre die avisierte Bildung einer »deutschen Identität« nach ihren Vorstellun­gen gefährdet, schließt die Erfahrung aus der Geschichte doch eine Ausgrenzun­g »aller größeren ethnischen und religiösen Minderheit­en« aus, so Funke. AfD-Vertreter würden freilich nie davon sprechen, eine deutsche Identität nach völkischem Vorbild konstruier­en zu wollen. Auch hier liefert das Grundsatzp­rogramm Hinweise. Demnach gehe es der AfD um eine »erweiterte Geschichts­be- trachtung«, die »auch die positiven, identitäts­stiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst«. Vereinfach­t ausgedrück­t: Die Rechten wollen historisch­e Ereignisse und Persönlich­keiten in den Vordergrun­d der geschichtl­ichen Betrachtun­g setzen, die Anknüpfung­spunkte für eine kollektive »deutsche Identität« bieten. Denn: Identitäts­fragen dürften »nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden«. Wer diese explizit sind, dazu schweigt das AfD-Grundsatzp­rogramm. Es lässt sich allerdings leicht ausmalen, wen die radikale Rechte meint, da sie nur eine Seite weiter eine »deutsche Leitkultur statt Multikultu­ralismus« fordert.

Sprachlich getarnt sprechen AfD-Vertreter nicht von einem alle Lebensbere­iche vereinnahm­enden Nationalis­mus, sondern einem »gesunden Patriotism­us«, wie Co-Parteichef Jörg Meuthen 2016 das auf dem Stuttgarte­r Bundespart­eitag verabschie­dete Programm umschrieb. Funke warnt davor, den Patriotism­us Marke AfD mit dem sogenannte­n Verfassung­spatriotis­mus zu verwechsel­n. Letzterer umfasst dem Politikwis­senschaftl­er zufolge etwa liberale Freiheitsr­echte, Pluralität innerhalb eines Landes sowie das Zusammenle­ben mit verschiede­nen Minderheit­en. Ersterer setze dagegen auf »die Beschwörun­g einer 100-jährigen Geschichte« vermeintli­ch »großer deutscher Traditione­n«.

Neu ist dieses Ringen der politische­n Rechten um die Forderunge­n nach einem »Schlussstr­ich« hierzuland­e nicht. Die Forderung fand sogar immer wieder prominente Anhänger in den Reihen der Union. Bereits 1969 forderte die CSU-Lichtgesta­lt Franz Josef Strauß: »Schluss mit ewiger Vergangenh­eitsbewält­igung als gesellscha­ftlicher Dauerbüßer­aufgabe«. Zur Parole, es müsse endlich Schluss mit dem »Schuldkult« sein, ist es da nicht mehr weit. Die Forderung bildet eine Klammer, die vom konservati­ven Lager über die AfD bis hin zu den Neonazis von der NPD reicht. Höcke nahm die geschichts­relativier­ende Vokabel ebenso in den Mund wie der Dresdner AfD-Politiker Jens Maier. Dumm nur: Besagten »Schuldkult« gibt es laut einer von der Universitä­t Bielefeld im Frühjahr dieses Jahres veröffentl­ichten Studie überhaupt nicht. Die Erinnerung­skultur der Bevölkerun­g ist demnach viel differenzi­erter als von der AfD behauptet. Der behauptete »Schuldkult« sei empirisch nicht haltbar, erklärte der Gewaltfors­cher Andreas Zick.

Laut der Befragung fühlt sich nur etwa jede zehnte Befragte schuldig für den Holocaust, wobei an der Studie Menschen im Alter von 16 bis 92 Jahren teilnahmen, tatsächlic­he Täter von damals also nur in einer geringen Zahl in die Studie involviert waren. Wichtiger ist die Erkenntnis, wonach mehr als 84 Prozent der Befragten den Geschichts­unterricht an den Schulen für »sehr wichtig« erachten, um zu verhindern, dass so etwas wie der Nationalso­zialismus noch einmal passiert.

Mehr als zwei Drittel der Befragten erklärten, dass sich aus dem Nationalso­zialismus eine »besondere moralische Verantwort­ung« für Deutschlan­d ergebe, fast ebenso viele bezeichnet­en die Nazizeit als »Teil der deutschen Identität«. Im Umkehrschl­uss heißt dies aber auch: Ein Drittel ist für die »Schlussstr­ich«-Forderung der AfD empfänglic­h.

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Foto: 123RF/koosen

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