Von der Bildungskatastrophe zur Bologna-Reform
1968 wollte die Studentenbewegung die sozialen Bildungsprivilegien schleifen. Unbeabsichtigt stimmten sie darin mit jenen überein, die unter »Reformen« Maßnahmen zur Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Konkurrenzkampf sahen.
Zwei Jahre nach 1968 erschien Agatha Christies letztes Buch »Passenger to Frankfurt«. Studenten in Europa und den USA werden darin, so die Ausgangslage im Buch, durch Herbert Marcuses Bücher zur Gewalt aufgehetzt. Ein Agentenpärchen vom Geheimdienst der Königin von England findet heraus, dass die Studentenrevolte Teil einer Weltverschwörung ist. Deren Ikone ist ein langhaariger Jüngling. Er sieht aus wie ein Wagner-Tenor, lullt die Jugend mit Pop-Gesang ein und gilt als Sohn von Hitler, der vor Kriegsende nach Südamerika entkommen ist. Ob das stimmt, lässt die Autorin offen. So oder so: Der studentische Tumult führt ins Chaos. Nur die smarten Agenten ihrer Majestät können die Zivilisation noch vor dem Untergang bewahren.
Christies Alterswerk wirkt reichlich irre. Aber nicht nur dort wird die Geschichte erzählt, dass die Frankfurter Schule die Studentenrebellion ausgelöst habe. Weiter geht’s meist in zwei Varianten: In der Version »Zauberlehrling« richten sich die Rebellen gegen ihre geistigen Anstifter und treiben Adorno in den frühen Herztod. In der Version »Intellektuelle Gründung der BRD« werden aus Möchtegern-Revolutionären Lehrer, Akademiker und staatstragende Politiker. Wer dieses Narrativ pflegt (Westbindung, Kritische Theorie als demokratische Leitideologie, kulturelle Liberalisierung), der kann auf die Hochschulreform verweisen, die auf die Kämpfe von 68 folgte.
Im Schatten dieser großen Erzählungen zeichnet sich eine kleinere, womöglich präzisere ab. Ihr Motto könnte eine Formulierung des Frankfurter Bildungsphilosophen HeinzJoachim Heydorn sein: der Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Das gleichnamige Buch erschien 1970. Sein Autor war nach Kriegsende der erste Vorsitzende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), 1961 schloss ihn die SPD aus (zu links). Die Studentenbewegung begleitete er aktiv und als solidarischer Kritiker.
Heydorns Grundgedanke war folgender: Ab 1967 wollte eine eher kleine Gruppe zorniger Studierender formale Bildungsprivilegien und reaktionäre Lehrinhalte abschaffen, um die Bastionen ideologischer Herrschaftssicherung zu schleifen. Von breiter Solidarität mit der studentischen Elite konnte keine Rede sein. Für die Mehrheit der Bevölkerung war die Propaganda der Springer-Presse maßgeblich. Gehörte so etwas nicht in Arbeitslager oder gleich an die Wand gestellt? Bekanntlich fehlte es nicht an Politkern, die den Hass gegen kritische Intellektuelle schürten. Doch so paradox es klingt: Unter der Oberfläche gab es einen latenten Konsens. Die Schwungkraft des Protests von 1968 kam nicht allein aus der geistigen Nische radikaler Gesellschaftskritik. Den Druck, der zur Hochschulreform führte, machten auch jene Kräfte, die schon damals, als man das noch nicht offen sagte,
unter »Reformen« Maßnahmen verstanden, um die Leistungsfähigkeit im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zu steigern.
1964 hatte der Religionsphilosoph Georg Picht vor einer »Bildungskatastrophe« gewarnt. Picht war Heidegger-Schüler und alles andere als ein Revoluzzer. Der Bildungsnotstand machte ihm Sorgen, weil ein unzeitgemäßes Bildungswesen und daraus folgender Lehrermangel Deutschland im internationalen ökonomischen Wettbewerb zurückfallen lasse. Die Angst vor dem Niedergang der »Kulturnation« vermochte, 20 Jahre nach Ende des deutschen Vernichtungskriegs, geistig-moralisch zu mobilisieren.
30 Jahre nach 68 kam die Bildungspolitik einer erneuten Protestwelle von Anfang an offen wohlwollend entgegen. 1997 streikten in Deutschland die Studierenden. Sie forderten keinen gesellschaftlichen Wandel, sondern mehr Geld für die Hochschulen. Kurz darauf wurde die Hochschulreform von Bologna auf den Weg gebracht. Bessere Ausstattung für die Hochschulen? Gern, wenn das Studium lebensnäher wird. Die Grenzen zwischen den europäischen Bildungskulturen sollten fallen, auch die Grenze zwischen Bildung und Ausbildung: Das Schlagwort lautete »Employability«. Wer ein Hochschulstudium absolviert, soll »einstellbar« werden. Statt akademischer Bildung: Ausbildung, die schnell für den Job fit macht. Überkommenen Inhalten und Formen des akademischen Geisteslebens wurde der Kampf angesagt.
Bolognas Ergebnisse haben nicht alle glücklich gemacht. Aber die Be-
teiligten schickten sich in ihr Los. Widerstand gegen die Abschaffung der Autonomie von Hochschulgremien hielt sich in Grenzen. Studentische Mitbestimmung? Macht doch nur Mühe und Ärger. In der Wirtschaft gab es zunächst Bedenken. Das weltweit bewährte deutsche Diplom abschaffen? Seit sich herumgesprochen hat, dass man Bachelor-AbsolventInnen weniger Lohn und Gehalt zahlen muss, kommen aus der Wirtschaft keine Einwände mehr.
2014 brachte »Die Zeit« eine PichtBilanz. Seine Warnungen hätten Wirkung gezeigt, »der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt« sei gestiegen. Aber längst nicht ausreichend, um sicherzustellen, dass das Wachstum im Bildungssektor mit dem allgemeinen Wirtschaftswachstum Schritt hält. Die nächste Bildungskatastrophe stehe bevor, weil die Institutionen dem Bedarf des wirtschaftlichen Wachstums nicht gerecht werden.
So kann es immer weitergehen. Aber nur, solange man die Augen davor verschließt, was Bildung ihrem philosophischen Begriff nach ist: ein Prozess, in dem sich Menschen kollektive Traditionen und Errungenschaften von Kultur und Wissenschaft aneignen. Wozu? Um urteilsfähige,
autonome und widerstandsfähige Subjekte zu werden. Primärer Auftrag von Schule und Hochschule ist aber Anpassung und Auslese. Das gilt für den gesetzlich erzwungenen Schulbesuch und für den einer Hochschule. Letzterer ist zwar nicht obligatorisch. Doch wer sein Leben nicht am untersten sozialen Ende fristen will, kommt kaum noch um den Hochschulabschluss herum.
Im Vergleich mit der Aufgabenstellung für Schule und Hochschule mutet die Quadratur des Kreises wie ein Kinderspiel an. Abhängig Arbeitende müssen mit Grundkenntnissen und digitalen Skills für die arbeitsteilige Produktion ausgestattet werden. Eine Auslese der sozial Privilegierten ist sicherzustellen. Fähiger Nachwuchs für bedarfsgerechte Forschung und Entwicklung ist vorzuhalten, ebenso für die kulturelle Elite im medialen Konkurrenzkampf der »Kulturnationen«. Dabei darf das Ideal des urteilsfähig-autonomen Subjekts nicht unter den Tisch fallen, das mittlerweile ja politisch erwünscht ist. So viel ist wahr am Narrativ von der Schlüsselrolle der Frankfurter Schule bei der »intellektuellen Gründung der BRD«: Hinter Adornos Postulat einer »Erziehung zur Mündigkeit«, ohne die sich kaum verhindern lasse, dass etwas Ähnliches wie Auschwitz noch einmal geschehe, möchten seriöse Politiker nicht zurückfallen.
Solange Bildungseinrichtungen funktional in den kapitalistischen Produktionsprozess eingebunden sind, gibt es kein Entkommen aus dem Widerspruch. Schon gar nicht, wenn man das Heil in der Ökonomisierung sucht
und Bildungsprozesse in »Kompetenzen« zerlegt. Deren Modellierung ist fortan die Aufgabe der Schule. Auch die Hochschule muss auf mess- und zählbaren »Output« ausgerichtet sein. Der ist präzise evaluierbar und wird von einem »Qualitätsmanagement« überwacht, gegen das die interne Revision eines Konzerns leger anmutet. Dazu wird permanenter Konkurrenzkampf durch Akkreditierungszwang und Hochschul-Rankings ausgerufen. Mit der Verknappung öffentlicher Unterstützung wird die Jagd nach Drittmitteln wichtiger als die Inhalte der Forschung. Geistige Freiräume, die sich ehedem immer wieder auftaten, werden rar.
»Picht minus »philosophischer Bildungsbegriff ist gleich Kompetenzideologie«: Das ist die Formel der bildungstheoretischen Konjunktur-Kurve der letzten 50 Jahre. Der Protest von 1968 verband die Forderung, die Bedingungen des akademischen Qualifikationserwerbs zu verbessern, mit dem Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit. Dabei waren sie sich den sozialen Bedingungen durchaus bewusst. Den 68ern unterlief daher nicht der Denkfehler einer Quadratur des bildungsphilosophischen Kreises. Im Gegenteil: Protest und Kampf um studentische Mitbestimmung machten den Widerspruch begrifflich und gesellschaftlich erst fassbar.
Der Autor ist Professor für Design- und Medientheorie in Würzburg und Privatdozent für Philosophie in Kassel. Während seines Studiums der Erziehungswissenschaft in Hamburg war er zwei Jahre lang studentischer Mitarbeiter des Bildungsreformers Carl-Ludwig Furck.