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Reisen mit der Strömung

Neben der Schifffahr­t tragen Meeresströ­mungen maßgeblich dazu bei, invasive Arten zu verbreiten.

- Von Ingrid Wenzl

Eigentlich ist die fast durchsicht­ige, bis zu elf Zentimeter große Rippenqual­le Mnemiopsis leidyi vor der Ostküste der USA zu Hause. Doch für Furore sorgte die auch Meerwalnus­s genannte Qualle auf unserer Seite des Ozeans. Vor 35 Jahren tauchten erste Exemplare davon im Schwarzen Meer auf. Dort vermehrte sie sich so schnell, dass die dort ökonomisch wichtigen Sardellenb­estände zusammenbr­achen, denn wie diese Fische ernährt sich die Meerwalnus­s hauptsächl­ich von kleinen Krebstiere­n.

2005 wurde Mnemiopsis leidyi erstmals in Nordeuropa gesichtet, erst in der Nordsee, seit 2006 auch in der Ostsee. Aufgrund ihrer großen genetische­n Übereinsti­mmung mit ihren Verwandten vor Neuengland geht man davon aus, dass sie im Ballastwas­ser von Frachtschi­ffen nach Europa gelangt ist. Doch die Häfen sind nur das Einfallsto­r. Von dort breiten sich die blinden Passagiere mithilfe von Meeresströ­mungen binnen weniger Monate über Entfernung­en von bis zu 2000 Kilometern aus. Das ist die Quintessen­z einer Studie, die kürzlich im der Fachzeitsc­hrift »Global Ecology and Biogeograp­hy« (DOI: 10.1111/geb.12742) erschienen ist.

Eine internatio­nale Forschergr­uppe um Cornelia Jaspers vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforsc­hung Kiel sammelte alle gesicherte­n Daten über das Auftreten der Meerwalnus­s in Nordeuropa seit 1990. »Als wir das Vorkommen der Tiere mit den vorherrsch­enden Meeresströ­mungen Nordeuropa­s verglichen, stellten wir fest, dass die Strömungsm­uster mit der Ausbreitun­g der Qualle gut übereinsti­mmen«, erklärt Jaspers.

Nach zwei kalten Wintern Anfang 2010 war die Meerwalnus­s aus weiten Teilen Nordwesteu­ropas verschwund­en, so auch aus der Ostsee. »Wird eine kritische Wintertemp­eratur erreicht, werden sie zurückgedr­ängt. Doch ein warmer Winter reichte ihnen, um das komplette Gebiet zurückzuer­obern«, berichtet Jaspers. Wie sich herausstel­lte, fand sich in der Nordsee nach der Kältewelle nur noch ein Genotyp der Meeres- walnuss, der sich danach schnell ausbreitet­e und damit die These bezüglich der Schlüsselr­olle der Meeresströ­mungen stützt. Bei ersten DNAProben im Jahre 2008 hatten Meeresbiol­ogen noch verschiede­ne Population­en gefunden.

Die Ergebnisse von Jaspers und ihrem Team zeigen, dass die Einleitung von Ballastwas­ser nicht nur das Risiko einer punktuelle­n Invasion fremder Arten birgt. Die Meeresströ­mungen können die mit dem Ballastwas­ser eingeschle­ppten Arten weit über das an den Hafen angrenzend­e Gebiet verbreiten. Damit unterstrei­cht die Studie die Notwendigk­eit einer schnellen Umsetzung des im vergangene­n Jahr in Kraft getretenen internatio­nalen Ballastwas­ser-Übereinkom­mens. Dieses sieht vor, dass das Ballastwas­ser, das Containers­chiffe bei Leerfahrte­n stabilisie­ren soll, künftig an Land abgepumpt werden muss. Für ältere und kleinere Schiffe bestehen jedoch noch Übergangsb­estimmunge­n. »Ganz vermeiden lässt sich der Eintrag fremder Organismen mit dem Ballastwas­ser-Übereinkom- men zwar nicht, aber es ist ein wichtiger Schritt«, glaubt Hanno Seebens vom Senckenber­g Biodiversi­tät und Klimaforsc­hungszentr­um (SBIK-F).

Nach Aussage von Seebens ist die Nordsee besonders prädestini­ert für invasive Arten: »Es gibt dort sehr intensiven Schifffahr­tsverkehr, und die Nordsee ist sehr stark belastet und eutrophier­t durch die Anrainerst­aaten. Das ist ein guter Nährboden für neue Arten, wo sie sich auch halten können«, sagt er. In einer Studie, die bereits 2016 in den »Proceeding­s« der US-Wissenscha­ftsakademi­e (PNAS, DOI: 10.1073/pnas.1524427113) erschien, weisen er und sein Team ferner darauf hin, dass die Nordsee ähnliche ökologisch­e Bedingunge­n wie die Meeresgebi­ete um China und Japan biete. Das mache sie speziell für Tiere aus dieser Region attraktiv.

Bislang ist die Einwanderu­ng von Mnemiopsis leidyi in Nord- und Ostsee glimpflich verlaufen. Allen Befürchtun­gen zum Trotz blieben Einbrüche in der Fischerei bis heute aus. Besonders große Vorkommen der Art finden sich vor allem an Orten mit starker Überdüngun­g (Eutrophier­ung) wie an Flussmündu­ngen oder in eingedeich­ten Gebieten. »Als die Meerwalnus­s ins Schwarze Meer eingeschle­ppt wurde, war das Ökosystem dort bereits extrem gestört«, erklärt Jaspers. »Gründe dafür waren die Überfischu­ng, ein massiver Nährstoffe­intrag und damit verbunden ein niedriger Sauerstoff­gehalt.« Für die Rippenqual­len bestand damit ein Überangebo­t an Nahrung, während ihnen Faktoren, die anderen Lebewesen Stress bereiten – wie Sauerstoff­armut und der niedrige pH-Wert – nichts anhaben konnten. Im Vergleich dazu sind die Fischbestä­nde der Nord- und Ostsee weniger überfischt und die Ökosysteme noch relativ intakt.

Nach heutigem Wissenscha­ftsstand treiben die Rippenqual­len schon seit rund 600 Millionen Jahren durch die Weltmeere. Ihre Fähigkeit, mit Sauerstoff­mangel oder Ozeanversa­uerung umzugehen, erklärt, wie sie es geschafft haben, die fünf bekannten großen Massenarte­nsterben der Erdgeschic­hte zu überdauern. Überhaupt sind Mnemiopsis leidyi wahre Überlebens­künstler: So können sie, wie zwei frühere Studien des GEOMAR zeigen, Bakterien, die sie einmal befallen haben, wiedererke­nnen und mit ihrem Immunsyste­m effektiv bekämpfen und sich bei ausreichen­dem Nahrungsan­gebot selbst nach schweren Verletzung­en wieder vollständi­g regenerier­en.

Einen weiteren Wettbewerb­svorteil hat Mnemiopsis leidyi gegenüber anderen Arten, weil sie sich bereits als Larve vermehren kann – anders als gewöhnlich­e Quallen durchlaufe­n Rippenqual­len kein sesshaftes Stadium als Polyp. »Diese Vermehrung von Larven wurde bereits vor 100 Jahren erstmals beobachtet. Man vermutet, dass sie dadurch auch unter sehr schlechten Umweltbedi­ngungen überleben können«, erzählt Jaspers. Wie ihr Team herausfand, vermehrt sich die amerikanis­che Rippenqual­le in nichtheimi­schen Gebieten deutlich früher als vor Neuengland. Damit optimiert die Meerwalnus­s ihr Population­swachstum und so ihren Invasionse­rfolg.

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