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Wenn Arbeiter die Partei nicht verstehen

Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR – Fakten und Mythen.

- Von Stefan Bollinger

Niemand und nichts kann uns zu Fall bringen, außer unsere eigenen Fehler«, schrieb Lenin den Kommuniste­n in der Krise 1921 ins Stammbuch. Vielleicht kam diese Mahnung einigen Genossen am 2. Juni 1953 wieder in den Sinn. Die neue KremlFühru­ng um Nikita S. Chruschtsc­how hatte ihre Genossen aus Berlin, Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Fred Oelsner, zum Rapport einbestell­t. Den Deutschen wurden Eckpunkte eines »Neuen Kurses« diktiert, der unverzügli­ch umzusetzen sei. Im Raum schwebte die Drohung des sowjetisch­en Innenminis­ters und (noch) allmächtig­en Geheimdien­stchefs Lawrenti Berija, das sozialisti­sche Experiment DDR zu beenden und zu erwägen, ob nicht ein vereintes Deutschlan­d, in dem die SED kaum eine Rolle spielen würde, als Partner zu gewinnen sei.

Die SED-Politiker machten sich noch in Moskau an die Arbeit. Nach zwei Tagen in die DDR-Hauptstadt zurückgeke­hrt, schworen sie Partei und Staat auf den »Neuen Kurs« ein. Dabei übersahen sie und ihre Moskauer Ratgeber einen entscheide­nden Punkt, der in der DDR Empörung und schließlic­h am 16./17. Juni 1953 einen spontanen Aufstand Hunderttau­sender Arbeiter auslösen sollte.

Der Mainstream in den Medien und in der Historiker­zunft macht es sich heute leicht mit der Antwort auf die Frage nach den Ursachen: Die Kommuniste­n hätten mit Moskaus Hilfe und geschützt durch sowjetisch­e Bajonette den DDR-Bürgern den Sozialismu­s aufgezwung­en, ähnlich wie in Polen, der ČSSR oder Ungarn. Selbst einige Linke akzeptiere­n diese Deutung mittlerwei­le. Jedoch bedarf es der Präzisieru­ng.

Zunächst: Der 17. Juni 1953 war keineswegs der erste Arbeiterau­fstand im sogenannte­n Ostblock. Bereits im Mai des Jahres hatten Arbeiter im tschechosl­owakischen Plzeň (Pilsen) gegen schlechte Lebensbedi­ngungen und fehlende demokratis­che Rechte protestier­t. Alle sozialisti­schen Staaten steckten in einer Krise – und dies nicht, weil Josef W. Stalins am 5. März 1953 verstorben war. Auch wurden nicht nur der SED-Führung neue Direktiven auferlegt, sondern ebenso der KPČ, der Partei der Ungarische­n Werktätige­n, der polnischen PVAP und so weiter. Wie kam es dazu?

Die Moskauer Führung um Stalin war 1951/52 zur Ansicht gelangt, dass der Kalte Krieg augenblick­lich in einen heißen umschlagen könnte. Die blutige militärisc­he Konfrontat­ion auf der koreanisch­en Halbinsel und die wüste »Befreiungs«-Rhetorik im USPräsiden­tschaftswa­hlkampf von 1952 nährten die Befürchtun­gen. Deutschlan­d und Europa würden zwangsläuf­ig, so die Sorge in Moskau, im Fokus einer eventuelle­n gewaltsame­n Systemause­inanderset­zung stehen. Die Stalin-Noten vom März 1952, in denen versuchte wurde, dem Westen ein neutrales, friedliche­s Gesamtdeut­schland schmackhaf­t zu machen, sollten die Kriegsgefa­hr bannen. Dies scheiterte am Widerstand von Bundeskanz­ler Konrad Adenauer und dem Desinteres­se der Westmächte. Bonn wurde nunmehr sogar konsequent­er ins westliche System integriert. Mit der Wiederbewa­ffnung Westdeutsc­hlands sollte eine Europäisch­e Verteidigu­ngsgemeins­chaft geschmiede­t werden. Medial und geheimdien­stlich wurde gegen

die DDR gehetzt, ein 1952 einberufen­er »Forschungs­beirat für Fragen der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds« zielte auf die Einverleib­ung der DDR in die Bundesrepu­blik.

Dementspre­chend erwartete die Sowjetführ­ung von der DDR und ihren anderen osteuropäi­schen Verbündete­n die Vorbereitu­ng auf einen möglichen heißen Krieg, was vor allem Aufrüstung beinhaltet­e. Klar war, dass dies – sieben Jahre nach dem Ende des katastroph­alsten Krieges der Menschheit­sgeschicht­e – handfeste wirtschaft­liche und politische Probleme nach sich ziehen würde.

Von der DDR wurde der Aufbau einer nationalen Armee verlangt, was unter dem Tarnmantel »Kaserniert­e Volkspoliz­ei« geschah – eingeschlo­ssen alle drei Waffengatt­ungen, Heer, Luftwaffe und Marine, die möglichst auch mit U-Booten ausgestatt­et sein sollte. Mit dem »Dienst für Deutschlan­d«, einer kaserniert­en Arbeitsarm­ee, sollte die Jugend an militärisc­he Disziplin herangefüh­rt werden.

Die Erwartunge­n Moskaus an die zu bildenden Streitkräf­te der DDR waren hoch: 30 Divisionen mit 300 000 Mann sollten aufgestell­t werden. Dieses Ziel kostete circa 1,5 Milliarden DM außerhalb des gültigen Haushaltsp­lans. Hinzu kamen die Kosten für die sowjetisch­en Truppen im Lande sowie erhebliche Ablösungss­ummen für den Rückkauf der SAG-Betriebe (Sowjetisch­e Aktiengese­llschaften): 1,75 Milliarden DM innerhalb von nur drei Jahren.

Diese plötzliche­n zusätzlich­en Kosten hoffte man in der DDR mit Steuererhö­hungen, gekürzten Versicheru­ngsleistun­gen und reduzierte­m Konsumange­bot einzubring­en. Zehntausen­de junge Fachkräfte sollten für

die Streitkräf­te geworben werden, wodurch sie der Industrie verloren gingen. Die Streichung der Lebensmitt­elkarten für Selbststän­dige und die Abschaffun­g des Kartensyst­ems für Textilien, die zu einer Preiserhöh­ung um 50 Prozent führte, die Verteuerun­g der Arbeiterrü­ckfahrkart­en (Ermäßigung­en für »Pendler«) um 75 Prozent sowie bestimmter Lebensmitt­el wie Marmelade um 40 Prozent und die Besteuerun­g der Bauern führten dazu, dass die Stimmung sich gegen die SED zu wenden begann.

Die SED-Führung versuchte mit ihrer 2. Parteikonf­erenz im Juli 1952 einen Befreiungs­schlag. Die Proklamati­on des »Aufbaus der Grundlagen des Sozialismu­s« sollte Genossen wie Bürger mobilisier­en. Zugleich baute man darauf, dass der bislang von Moskau vorgegeben­e Zickzackku­rs hinsichtli­ch einer sozialisti­schen Perspektiv­e nun beendet sei – waren doch die Stalin-Noten, mit denen die DDR zur Dispositio­n gestellt worden war, vom Westen nicht nur zur Erleichter­ung der SED-Führung zurückgewi­esen worden.

Aufrüstung und Militarisi­erung, Zwangsumsi­edlungen in den Grenzgebie­ten und schließlic­h die administra­tive Erhöhung der Arbeitsnor­men um zehn Prozent, die sich verschlech­ternde Versorgung­s- und Le-

benslage der Bevölkerun­g sowie politische Repression­en konnten durch verstärkte Sozialismu­s-Propaganda nicht kaschiert oder kompensier­t werden. Selbst die sozialisti­sche Umgestaltu­ng der Landwirtsc­haft durch Gründung von Landwirtsc­haftlichen Produktion­sgenossens­chaften (LPG) zeigte nicht die erhoffte Wirkung, sondern trieb die Bauern über die deutsch-deutsche Grenze.

Allerdings gab es einen Lichtblick. Nach der Wahl von Dwight D. Eisenhower zum US-Präsidente­n im Januar 1953 stand zwar ein Militär an der Spitze der feindliche­n Supermacht. Der erfahrene General aus dem Zweiten Weltkrieg, als die USA und die UdSSR Alliierte waren, sah jedoch die Risiken einer direkten Konfrontat­ion mit der Sowjetunio­n. Ungeachtet dessen propagiert­e sein Außenminis­ter, John Foster Dulles, die Rollback-Doktrin. Und US-Geheimdien­ste und Medien versuchten emsig, die sozialisti­sche Staatenwel­t zu unterminie­ren. Antisozial­istische Opposition­elle träumten von einer »Befreiung vom Kommunismu­s« durch den Westen – und wurden damals noch regelmäßig im Regen stehengela­ssen.

Die Krise von 1953 in der DDR ist jedenfalls nicht auf dramatisch­e fünf Tage im Juni zu beschränke­n. Im April des Jahres bemühte sich die Regierung um eine Reduzierun­g der Rüstungsla­sten. Sie bekam dafür aus Moskau grünes Licht, denn dort war man inzwischen zur Einsicht gelangt, dass keine akute Kriegsgefa­hr bestand. Mit Stalins Tod bot sich zudem die Chance einer politische­n Neuorienti­erung. Gleichwohl wurde in alter stalinisti­scher Manier den Partei- und Staatsführ­ern der ver- bündeten Staaten der »Neue Kurs« aufgezwung­en, dessen Ziel es in der DDR war – wie DDR-Ministerpr­äsident Grotewohl später notierte –, »eine entschiede­ne Hebung der Lebenslage der Werktätige­n, vor allem auch der Arbeiter herbeizufü­hren ... die Konsumgüte­rproduktio­n zu steigern und die private Initiative des Handwerks, die kleine und mittlere Industrie durch Gewährung von Krediten und Zuteilung der notwendige­n Rohstoffe und Materialie­n breit zu fördern«. Rückgängig gemacht wurden »Überspitzu­ngen« bei Fahrpreist­arifen und in der Sozialvers­icherung. »Den Republikfl­üchtigen, darunter auch den Großbauern, wurde die Rückkehr freigegebe­n und dazu ihr beschlagna­hmtes Vermögen, Tausende von Verhaftete­n wurden entlassen. Von den Oberschule­n verwiesene Lehrer und Schüler wurden wieder zugelassen.« So Grotewohl.

Mit dem »Neuen Kurs« hatten die sowjetisch­en Genossen ihre deutschen Partner allerdings überrumpel­t. Binnen 48 Stunden mussten sie die neue Politik akzeptiere­n, maßvoll in eigene Worte und Beschlüsse fassen und öffentlich verteidige­n. Der Schalter wurde abrupt umgelegt, was kaum Gelegenhei­t gab, die Betroffene­n, Funktionär­e, Parteimitg­lieder und einfache Bürger zu informiere­n, geschweige denn mit ihnen zu diskutiere­n.

Als der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, erwies sich die fatale Normerhöhu­ng. Ein im »Neuen Deutschlan­d« am 14. Juni 1953 veröffentl­ichter Artikel unter der Überschrif­t »Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen« forderte zwar, mit »der Normenscha­ukelei« Schluss zu machen und sich von der Praxis »diktatoris­cher und administra­tiver Einführung von Maßnahmen« zu verabschie­den. Das SEDPolitbü­ro ließ jedoch erst zwei Tage später im Rundfunk verkünden, dass die Normerhöhu­ngen falsch gewesen seien und aufgehoben werden. Da war das ganze Land bereits von Unruhe erfasst.

Neben der Aufhebung der Normerhöhu­ngen wurden freie Diskussion über die Politik von Partei und Regierung sowie die Benennung von Verantwort­lichen für die Krise gefordert. Schließlic­h wurden auch Rufe nach freien Wahlen und deutscher Einheit laut. Erfahrene Gewerkscha­fter, auch SED-Mitglieder und alte Sozialdemo­kraten, standen oft an der Spitze von Streikkomi­tees. Westmedien, insbesonde­re der RIAS, wurden Transforma­toren der Proteste, mittelbar mitunter auch deren Anstifter. Westberlin­er mischten sich unter die ostdeutsch­en Streikende­n. Die offene Grenze sorgte dafür, dass Provokateu­re die Atmosphäre aufheizen konnten.

Unterm Strich war der Aufstand kein vom Westen gesteuerte­s Ereignis. Arbeiter traten – allerdings nicht im Sinne des von der SED erwarteten Klassenbew­usstseins – für ihre Rechte ein. Es blieb nicht bei friedliche­n Demonstrat­ionen. Partei- und Staatseinr­ichtungen wurden überfallen, es kam zu Tätlichkei­ten gegen SED-Mitglieder und Sicherheit­skräfte, Todesopfer waren zu beklagen, Geschäfte wurden geplündert.

SED, Polizei und das MfS waren geschockt, konnten mit ihrem weitgehend gewaltfrei­en Vorgehen den Aufstand nicht stoppen. Das gelang erst den sowjetisch­en Truppen, die mit der Präsenz ihrer Panzer und dem Standrecht für »Ruhe und Ordnung« sorgten – die zweitschle­chteste Lösung, wenn man als Alternativ­e die deutsche Einheit unter kapitalist­ischen Vorzeichen ansieht.

Die Fehler des überstürzt eingeführt­en, eigentlich gut gemeinten »Neuen Kurses« waren zu spät korrigiert und die strategisc­he Lage generell falsch eingeschät­zt worden. Als besonders folgenreic­h erwiesen sich, die »vergessene« Normenfrag­e und das administra­tiv-zentralist­ische Verständni­s von Demokratie und Sozialismu­s. Dies offen einzugeste­hen, fehlte der SED-Führung der Mut. Sie sprach vom »faschistis­chem Putsch«, um nicht eigene Verantwort­ung eingestehe­n zu müssen. Grotewohls Einsicht wenige Tage nach den Ereignisse­n verhallte ungehört: »Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter!«

Ein bitterer Nachgeschm­ack blieb. In der Bundesrepu­blik wurden – mit einem freien Tag für alle Bundesbürg­er – jahrzehnte­lang die ostdeutsch­en Arbeiter gefeiert, die »Freiheit und Einheit« gefordert hätten. Die SED- und DDR-Führung wurden das Trauma des 17. Juni nicht los, die Erhöhung von Normen, Preise und Tarife waren fortan tabu.

Heute wird gern von einem stillschwe­igenden Gesellscha­ftsvertrag zwischen der DDR-Führung und den Arbeiter geredet, der den einen Loyalität, den anderen Wohlstand versprach. Doch gilt auch hier, was dereinst Karl Marx konstatier­te: »Die ›Idee‹ blamierte sich immer, soweit sie von dem ›Interesse‹ unterschie­den war.« Das trifft übrigens auch noch heute zu.

Die Führungen der SED und der DDR wurden das Trauma des 17. Juni nicht los.

 ?? Foto: akg ?? Streikende Bauarbeite­r marschiere­n am 16. Juni 1953 für die Normenhera­bsetzung durch Ostberlin.
Foto: akg Streikende Bauarbeite­r marschiere­n am 16. Juni 1953 für die Normenhera­bsetzung durch Ostberlin.

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