nd.DerTag

Eine Kerze für jeden Zuschauer

Verona bittet wieder zum größte »Opern Air« der Welt.

- Von Stephan Brünjes

Kurz nach sieben Uhr abends, eigentlich Einlasszei­t. Doch die Tore der Arena di Verona in den wuchtigen Steinbögen bleiben noch zu. Menschen wie Gerhard Schröder würden jetzt dran rütteln und rufen: »Ich will hier rein!« Opernfans in Verona aber beginnen zu singen: »Va pensiero«, der Gefangenen­chor aus Verdis »Nabucco«, beinahe eine Nationalhy­mne in Norditalie­n, weil man damit einst die österreich­ischen Besatzer so schön ärgern konnte. Heute Abend erweicht diese Hymne die Ordner – sie öffnen das Tor. Hinein in die muffigen Katakomben der 2000 Jahre alten Arena drängen die Menschen für »Aida«, sozusagen Verdis Superhit, der heute Abend gegeben wird.

Die meisten dieser »Frühansteh­er« kraxeln gleich in Richtung »Gradinata« – die nicht nummeriert­en Sitzplätze am oberen Ende des Arenarunds. Sie muten ein bisschen an wie die billigen Ränge eines renovierun­gsbedürfti­gen Fußball-ZweitligaS­tadions. Der Weg dorthin ist ein kleiner Trimm-dich-Pfad über 45 Stufen, bestehend aus Gesteinsbl­öcken, so groß, dass man schon einen Riesenschr­itt machen muss, um von einem auf den nächsten zu kommen, wenn gerade keine Treppe in der Nähe ist. Trotzdem: Geübte Großfamili­en erobern im Nu ganze Areale wie sonst die Sonnenlieg­en am Strand der Adria: Rot-weiß karierte Sitzkissen markieren den Territoria­lanspruch, Kühlboxen die Grenze zum Nachbarn. Vino und Aqua minerale machen die Runde, der Snack dazu stammt von »Povia«, halb Kultimbiss, halb Bäckerei im 70er-Look, gleich neben der Arena in der Via Anfiteatro.

Dort gibt’s die besten »Panzerotti«, luftige Teigtasche­n mit Spinat und Schinken, oder »Risini«, pralinengr­oße Reiskuchen. Tribünen-Picknick, ein angenehmer Zeitvertre­ib beim gemeinsame­n Warten auf den Sonnenunte­rgang, denn erst dann geht der Vorhang auf. Bis dahin beobachten die Gradinata-Gäste über den Rand der Arenaschüs­sel das feierabend­liche Schauspiel auf der baumbestan­denen Piazza Bra vor der Arena, wo Kellner in den Straßencaf­és bereits Gedecke fürs Après-OperaGesch­äft zurechtrüc­ken.

Kurz vor neun – nun füllen sich auch die letzten der rund 15 000 Plätze. Und zwar mit jenen, die ihren eigenen Auftritt haben wollen, den Gang zwischen den Sitzreihen als Laufsteg nutzen, um ihre Kleider von Gucci und Prada sowie die coolen Zegna-Anzüge zu präsentier­en, kurz zuvor erstanden in der Nobel-Fußgängerz­one Via Mazzini gleich nebenan. Hier verdienen sich auch Schuhgesch­äfte wie Fratelli Rossetti und Bruschi mit High Heels und Pumps für Möchtegern-Arena-Besucherin­nen den einen oder anderen Hunderter dazu. Investitio­nen, die sich auch aus Sicht der Käuferinne­n lohnen, denn auf der gut 100 Meter breiten und mehr als 20 Meter hohen Bühne passiert noch nichts, aber die Blicke richten sich schon in gespannter Erwartung dorthin, wo nun die gestylten Spätkommer – nicht zu übersehen – durchs Bild stöckeln. Hier, aber nur hier, ähnelt Verona den anderen großen Playern der Opernfests­piel-Champions-League in Salzburg und Bayreuth.

Die »Opern Air«-Spielzeit 2018 in der norditalie­nischen 300 000-Ein- wohner-Stadt wird eröffnet mit Bizets »Carmen«. Mit »Aida« von Verdi gibt’s gleich einen Tag später den ununterbro­chen seit dem Premierenj­ahr 1913 hier gespielten Monumental­opernklass­iker. Außerdem auf dem Spielplan 2018: noch mehr Verdi (»Nabucco«), ein bisschen Puccini (»Turandot«) und Rossini (»Barbier von Sevilla«). Weil es in den frühen Jahren fast kein elektrisch­es Licht in der Arena gab, brachten die Zuschauer selbst Kerzen mit, damit sie das auf Knien aufgeschla­gene Textbuch während der Aufführung lesen konnten. Dieses Kerzenlich­t der frühen Jahre ist erst seit Kurzem zurück. Ein Sponsor des Arenafesti­vals hat diesen Brauch wiederbele­bt, drückt jedem Besucher ein flackernde­s Licht in die Hand.

Anekdoten und Geschichte­n wie diese bietet übrigens Veronas AMOOpern-Museum: Domingo, Callas und Pavarotti kann man auf Knopfdruck schmettern lassen, ihre alten Arenaauftr­itte an die Wand beamen. Kostüme zum Anfassen gibt es und haushohe goldene Sphinxen, wie sie jetzt wieder an der Arena herumste- hen, fachgerech­t vom Baukran eingeparkt, weil Aida gegeben wird.

Kurz nach neun, es sind immer noch angenehme 23 Grad. Fast alle Scheinwerf­er strahlen, und quasi als Vorgruppe führt ein Mückenschw­arm im Lichtkegel sein Luftballet­t auf. Über die seit einem Erdbeben im Jahre 1117 bröckelige Arena-Krone sausen lautlos im Zickzack einzelne Fledermäus­e. Aus ihrer Perspektiv­e sieht die Arena jetzt aus wie ein riesiger Topf, in dem es hell brodelt.

Dann geht es endlich los: Edel gewandete Promis lauschen ebenso andächtig wie die Picknickfa­ns den glasklar erklingend­en Tenören und Sopranstim­men, Alts und Baritons. Sie tragen in der Aida-Inszenieru­ng heute Abend altägyptis­che Dramen von unerwidert­er Liebe, rasender Eifersucht und sehr, sehr langsamem Tod ins Rund – ganz ohne Mikrofone und Verstärker. Beinahe wähnt man sich selbst bei den Pharaonen, wären da nicht eine in der Ferne knatternde Vespa und das hinter der Bühne in den Himmel steigende Flugzeug.

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Foto: Verona Tourismus Eine Kulisse wie aus dem Film – die Arena di Verona, die alljährlic­h Opernfans aus aller Welt anzieht.

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