Nach dem Weltuntergang
Im Rollenspiel »Fate« muss man sich in der Postapokalypse durchschlagen.
Die Sonne brennt über dem sachsen-anhaltinischen Mahlwinkel, als sich am Donnerstag vor Pfingsten ein Treck in Bewegung setzt. Im Jahr 2168, ungefähr 150 Jahre nachdem der Kalte Krieg urplötzlich heiß wurde und die Menschheit an den Rand ihrer Existenz gebombt wurde, findet sich an der Stelle einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis längst die Stadt Angel Falls, die ich über das Wochenende samt ihrer vielseitig schrägen BewohnerInnen näher kennenlernen sollte.
In diesem Jahr bin ich zum ersten Mal Teil des FATE, einem Live-Action-Role-Play (kurz LARP), das nicht in einer mittelalterlichen FantasyWelt, sondern in der Endzeit, nach der atomaren Apokalypse angesiedelt ist. Als einfacher Ödländer tauche ich ein in das Setting, das stark an die Videospielreihe »Fallout« angelehnt ist, und muss irgendwie die kommenden drei Tage überleben; gegen Hunger, radioaktive Strahlung, Banditen und allerhand Mutanten. Überredet haben mich zwei meiner besten Freunde, die LARP schon länger als ihr bevorzugtes, zeitund kostenintensives Hobby ausgesucht haben. Aus journalistischem Interesse sage ich zu. In den Monaten zuvor sitzen wir oft gemeinsam in Bastelkellern oder auf Balkonen und schrauben an Kostümen, Waffen und Ausrüstung, die endzeitlich genug aussehen müssen, um vom Orga-Team und MitspielerInnen akzeptiert zu werden. Endzeitlich bedeutet vor allem alt und dreckig, also klappern wir Flohmärkte nach alten Mänteln ab und bearbeiten diese mit Cuttermessern, Erde, Sand und Kunstblut. Dabei ziehen wir kurzzeitig den Zorn des kroatischen Restaurants im Erdgeschoss auf uns, denn vom Balkon fallender Sand auf den Tellern der Gäste ist schlecht fürs Geschäft.
Als wir am Mittwochnachmittag vor Pfingsten in Mahlwinkel ankommen, treffen wir auf die ersten MitspielerInnen, die die letzten Vorbereitungen und Aufbauarbeiten für das kommende Spiel treffen. Noch befinden wir uns »OT«, kurz für Out-Time, das heißt, wir alle sind noch dieselben Menschen wie in der Realität. Erst am Donnerstagabend geht das Gelände »IT«, In-Time, dann schlüp- fen alle in die Rollen, die sie sich im Vorfeld ausgedacht haben. Viele sind zum ersten Mal dabei, andere kommen mit ihren Charakteren schon seit Jahren in die ostdeutsche Pampa, um in Angel Falls ihr Glück zu suchen: durch Handel, Dienstleistungen oder Kämpfe mit anderen SpielerInnen. Sie kommen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und sogar Dänemark, um dieses Wochenende in Mahlwinkel zu verbringen, einmal jemand anderes zu sein als im echten Leben und zwar durchgehend bis zum Pfingstsonntag um null Uhr.
Donnerstagabend: Nach einer kurzen Einweisung der Organisatoren zieht der bereits genannte Treck, bestehend aus Hunderten anderen Ödländer, in Richtung Angel Falls. Jetzt befinden wir uns »IT« und die Waffen der MitspielerInnen sind nicht länger harmlose NERF-Blaster, die Schaumstoffpfeile verschießen, sondern echte Pistolen, Gewehre und Raketenwerfer, die unseren Charakteren den Tod bringen können. Ich bin nicht länger Journalist, sondern wie ausgetauscht ein Junge von der Farm, der in Angel Falls seinen verschwundenen Vater finden möchte. So habe ich es mir im Vorfeld erdacht, für die kommenden drei Tage ist das meine Realität.
Bei mir habe ich nichts außer den Sachen, die ich an mir trage. Dreckige Klamotten, einen kaputten Hut, einen Revolver, ein Gewehr, dass bei erster Gelegenheit den Geist aufgibt und zwei rostige Konserven. Alles andere, was ich brauche – Essen, Wasser, Munition, Medikamente gegen die Strahlung und ein Bett – muss ich mir »IT« erst erspielen, indem ich das im Spiel verwendete Geld verdiene: die »Chidmark«, oder kurz »Chids«. Andere Ödländer haben sich besser vorbereitet, manche haben Sackkarren voller Konserven, andere kommen auf Motorrädern oder anderen postapokalyptischen Fahrzeugen. Wie zum Beispiel die »Rover Crew«, der ich mich im Laufe des Trecks anschließe, weil einer von ihnen meinen Vater kennen könnte. Ihre Anführerin lädt mich ein, solange in ihrer Basis lagern zu können. Aber nichts im Ödland ist umsonst, also muss ich dafür in den Nächten Wache stehen oder kochen.
Kurz vor der Stadt kommt es zum ersten Zwischenfall, plötzlich heulen aus der Ferne Motoren auf. Die TeilnehmerInnen des Tracks flüchten von der Straße, ganz im Sinne der Gruppe, die nun in Schrittgeschwindigkeit angerast kommt. Es ist »The Maschine«, eine Gruppe verrückter Motorenfreaks wie aus dem Film MadMax, die einen Maschinengott anbeten und dafür kämpfen, dass die Straße den Fahrzeugen und nicht den Fußgängern gehört. »OT« bin ich davon angetan und fasziniert von dem Enthusiasmus, mit dem manche Menschen ihre Rollen spielen, »IT« bekomme ich es mit der Angst zu tun und ahne nicht, dass ich noch mehr mit diesen Wahnsinnigen zu tun haben werde.
Die Trennung zwischen »OT« und »IT« fällt mir manchmal schwer, vor allem, wenn ich den sächselnden »Roten Pakt« treffe, eine der vielen Fraktionen im Spiel, die man als Nachfolge der NVA betrachten kann und die an die Lehre der »Nautik« glaubt. Instinktiv muss ich jedes Mal auch sächseln, obwohl ich streng genommen in meiner eigenen Rolle bleiben muss. Wechsel ins »OT« finden während des Spiels nur auf dem Parkplatz statt, der nicht als Teil des Spielgeländes gedacht ist oder wenn man kurz flüsternd mit einem anderen Spieler abspricht, wie fest man im folgenden Faustkampf zuschlagen soll, kann, darf. Schließlich ist die Sicherheit aller MitspielerInnen eines der wichtigsten Anliegen, das einzige Blut, das fließen soll, ist künstlich.
Blutfluss erlebe ich selbst wenig, die ersten zwei Tage verbringe ich quasi in Langeweile. Nachdem im vergangenen Jahr eine größere Gruppe Banditen, vergleichbar mit den Raidern aus den »Fallout«-Spielen, ausgelöscht wurde, fehlt auf den Straßen die Gefahr. Das hilft auch dem Busunternehmen nicht, in dem ich mein Geld verdiene, denn niemand braucht einen sicheren Transport, wenn er auch zu Fuß gehen kann. Doch die Schuld an der Langeweile liegt auch an mir, schließlich ist das Konzept des Spiels »playerdriven«: Die SpielerInnen sind zu einem gewissen Grad selbst für ihr Spiel verantwortlich. Einen vorher festgelegten allumfassenden Plot gibt es nicht. Deshalb erkunde ich in meiner Freizeit die verschiedenen Fraktionen, die das Ödland bevölkern: Motorradgangs und andere mafiöse Strukturen, Scavenger genannte Schrottsammler, Söldner, religiöse Zusammenschlüsse wie die Bruderschaft des Kreuzes, die sich alle mehr oder weniger nicht leiden können.
Ich lerne die unterschiedlichen BewohnerInnen der Postapokalypse kennen und gebe mich stets freundlich, schließlich wurde mein Charakter von seiner Mutter ordentlich erzogen. Ich lerne Tess kennen, die bei der Post arbeitet und Briefe und Pakete durchs ganze Ödland zustellt oder Liri, die erfolgreich Schrott sammelt und gewinnbringend weiterverkauft. Doch die Freundlichkeitsmasche kommt nicht bei allen gut an. Beim Busunternehmen, dem Rostkutschenexpress, das mir Lohn und Brot gibt, bekomme ich gleich am ersten Tag einen Sonderauftrag, der erfordert, ruppig zu sein. Gemeinsam mit »The Maschine« soll ich täglich eine spezielle Tour fahren, aber dafür muss ich erst einmal das Vertrauen dieser Wahnsinnigen gewinnen und werde ihrem Imperator vorgestellt. Von meiner Chefin Saphira wird mir just eine Sekunde zuvor der Tipp gegeben, einfach alles, was ich zu sagen habe, laut und aggressiv vorzutragen, außerdem gibt sie mir ein Geschenk, das ich dem Anführer der Mobilitätsfanatiker überreichen soll. Nach einigem Hin- und Hergebrülle klappt die Zeremonie. Und nachdem mein Charakter einen großen Schluck »Benzin« getrunken hat, akzeptiert man mich. Zumindest vorerst.
Von den drei Touren, die wir gemeinsam hätten unternehmen sollen, findet nur eine statt. Zu oft legen sich »The Maschine« mit anderen Fraktionen an, zu oft wird der Imperator getötet und durch einen neuen ersetzt und dennoch schafft mein Charakter es, sich einigermaßen mit ihnen anzufreunden. Das steigert meinen Status in der Spielwelt, zumindest ein bisschen. Ich komme klar mit einer Fraktion, vor der viele andere Charaktere Angst haben, das verschafft mir etwas Respekt und sorgt am Ende fast noch für mein Ableben.
Die Strahlung hingegen macht mir kaum zu schaffen. Bei der Anmeldung bekommt jeder Spieler und jede Spielerin einen Computerchip von der Größe einer Münze. Darauf befindet sich ein zufälliger Wert, der angibt, wie groß die eigene Strahlen- belastung ist. Mit entsprechenden Maßnahmen wie Medikamenten oder einer Dekontamination lässt sich der Wert senken, durch den Aufenthalt in verstrahlten Gebieten, wie zum Beispiel der mysteriösen Zone, die an das Buch »Picknick am Wegesrand« angelehnt ist, steigt der Wert. Bei zu viel Strahlung geht man über den Styx. Doch ich habe Glück und bin das ganze Wochenende im grünen Bereich. Trotzdem muss auch ich einmal täglich »RadX« erwerben und einnehmen, um in diesem Bereich zu bleiben.
Am Samstag habe ich glücklicherweise bereits genug Geld verdient, um mir die Medikamente für den Sonntag leisten zu können und kann mir den Tag also frei nehmen, um Angel Falls selbst kennenzulernen. Hier gibt es fast alles, HändlerInnen, Fast-Food, ein Badehaus und sogar eine funktionsfähige Sauna. Regiert wird die Stadt von einer Handelsgilde, die in Bedrängnis geraten ist. Seit einigen Tagen wird der Lohn der Söldnergilde, die die Stadt beschützen soll, nicht mehr gezahlt, außerdem hat sie es sich mit einigen Fraktionen außerhalb der Stadt verscherzt. Als diese am Sonntagabend die Stadt angreifen, ist ein Großteil der SöldnerInnen bereits desertiert, nur mit Mühe kann der erste Angriff zurückgeschlagen werden. Derweil sprengt »The Maschine« die Tankstelle in die Luft und übernimmt nach dem dritten Angriff kurzzeitig die Kontrolle über die Stadt, bis die neue Herrschaft von prügelwütigen Kreuzrittern und Iren wieder beendet wird. Aus Sympathie für meine neuen FreundInnen stelle ich mich auf ihre Seite und kassiere fast selbst eine Abreibung. Dennoch kann ich dabei helfen, Überlebende halbwegs sicher aus der Stadt zu eskortieren.
Was danach aus uns wird, ist nicht geklärt, denn um Mitternacht wechseln fast alle SpielerInnen in den Ambientemodus. Alles, was jetzt passiert, spielt keine Rolle mehr für das kommende Jahr. Meine letzte Zigarette rauchend, fasse ich den Entschluss, dass ich wissen möchte, wie es weitergeht und wieder kommen will. Das nächste Mal werde ich besser vorbereitet sein, wissen, was mich erwartet und der Langeweile eine Abfuhr erteilen. So wie es jedes Jahr in Mahlwinkel Hunderte Endzeitbegeisterte tun.
Gemeinsam mit »The Maschine« soll ich täglich eine spezielle Tour fahren, aber dafür muss ich erst einmal das Vertrauen dieser Wahnsinnigen gewinnen und werde ihrem Imperator vorgestellt.